Berlin den 3ten Dezember 1881
Lieber Karl!
Indem ich Deinen letzten Brief vom 6ten vorigen Monats wieder in die Hand nehme, um ihn zu beantworten, drängt sich dabei auch wieder die Betrachtung auf, wie rasch die Zeit vergeht und bedeutende Vorgänge und Eindrücke, die uns noch vor wenigen Wochen auf das lebhafteste beschäftigen, so bald in den Hintergrund treten und in der Erinnerung einer viel länger vergangenen Zeit anzugehören scheinen. Dein Brief giebt noch einen näheren Bericht von den Wahlkämpfen, an denen Du auch persönlich Theil genommen hast. Habe ich auch wohl meine Bürgerpflicht erfüllt und meine Stimme als Urwähler hier meinem Freund Stoecker abgegeben, so habe ich doch weder Zeit, noch Kraft, noch Neigung gehabt, mein kleines Schifflein den Stürmen der Wahlbewegung Preis zu geben. Dieselbe hat auch hier so koloßale Dimensionen, daß man als Rufer im Streit schon von Natur mit einer mächtigen Bruststimme begabt sein muß. Es gehört auch ein jugendlicher Sinn dazu, um an die Vernunft der Menge zu glauben und auch bei einer offenbaren Uebermacht der Gegner die | Hoffnung des Sieges nicht fahren zu laßen. Diese Wahlen, welche nun als zeitgemäße und nothwendige Institution alle Einrichtungen des Staats, der Kirche und Kommune durchdringen, sind eine wahrhaft satanische Erfindung der neueren Zeit; sie sind die giftige Quelle von Haß, Zwietracht und Zerstörung in allen sittlichen Zuständen des Volks; sie geben seine Wohlfahrt, das Geschick aller öffentlichen Ordnungen, ihre Pflege und Entwicklung dem Zufall und dem Erfolge nichtswürdiger Agitationen Preiß. Eine wohlgeordnete Regierung kann diesem Treiben gegenüber auf die Dauer nicht Stand halten; ihre Kräfte werden auch durch diese Kämpfe absorbirt und den positiven Aufgaben ihres Berufs entzogen. Ein Bismark kann wohl zur Zeit dieser Fluth einen Damm setzen; darauf ist aber auf die Dauer nicht zu rechnen. Die Liberalen setzen mit Recht ihre Hoffnung auf die Sterblichkeit der Menschen; sie erwarten, daß mit dem Tode des alten Kaisers eine neue Aera anbrechen werde. Daher werden alle Symptome seiner zunehmenden Hinfälligkeit mit größter Spannung verfolgt, und man sucht sich mit Vermeidung eines kritischen Konflikts mit der jetzigen Regierung für den kommenden Morgen zu konserviren. So wollen wir dann auch in geziemender Bescheidenheit uns auf das | Abwarten legen; es wäre auch vergeblich, sich ein zuverlässiges Bild der Zukunft zu entwerfen; nur muß Jeder sich darauf vorbereiten, daß er unter allen Umständen mit Ehren und gutem Gewissen fest zu stehen im Stande sein werde. Die Provinzialsynode, welche 13 Tage gedauert hat, ist im Ganzen befriedigend verlaufen, und da es keinen sonderlichen Skandal dabei gegeben, so hat sie auch weniger die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie hatte in kurzer Zeit viel Material zu bearbeiten und hat dies auch mit Fleiß und Interesse gethan. Der gute Verlauf einer solchen Versammlung hängt vornehmlich von einer gründlichen Vorbereitung aller Vorlagen, einer geschickten Leitung durch den Präses und dem Vertrauen einer wohlgesinnten Majorität ab. Diese Bedingungen waren hier vorhanden, und besonders war es mir sehr erwünscht, daß ich die Wahl des Landesdirektors von Levetzow zum Präses erreichte. Er ist ein gescheuter, gebildeter Mann, durchaus ehrlich und ehrenhaft, kirchlich und politisch von vortrefflicher Gesinnung. Zum Lohn für den achtungswerthen Erfolg in der Provinzialsynode hat ihn nun der Reichstag zu seinem Präsidenten gewählt; es ist dies für ihn eine schwere Heimsuchung; denn er hat nicht dazu nicht den Ehrgeiz und doch auch sein wichtiges Amt als Landesdirektor der Provinz Brandenburg | wahrzunehmen. Die Tage der Synode waren für mich sehr anstrengend und ich war sehr dankbar, daß meine Kräfte dazu ausreichten. Am meisten hatte ich mich mit dem eitlen, liberalen Schwätzer, Prediger Richter – Mariendorf herumzustreiten, wurde aber doch von der Majorität der Synode überall gehörig unterstützt. Im Uebrigen verhielt sich die Linke in gemäßigten Grenzen.
Sehr erfreut hat mich die Nachricht in den Zeitungen, daß die Göttinger Universität Dich zum doctor juris, doch wohl utriusque, kreirt hat. Ich vermuthe, daß die Städte-Chroniken, von denen ich den 17ten Band mit Dank empfangen habe, wohl die unmittelbare Veranlassung dazu gegeben hat. Ich erwarte nähere Nachricht, wie Du es mit dem Doktorschmaus gehalten hast. Wir beklagen es lebhaft, daß Professor Frank den Ruf als Dogmatiker an die hiesige Universität abgelehnt hat. Wenn ihn konfessionelle Bedenken als Lutheraner in Betreff der unirten preußischen Kirche dazu bewogen haben sollten, so wäre dies sehr engherzig und ein trauriges Zeichen der Verschrobenheit der kirchlichen Verhältnisse in Deutschland.
Von den Waldenburger Kindern und von Willy haben wir gute Nachrichten; wir hoffen, daß uns Willy zu Weihnachten besuchen werde.
Clara und Klärchen grüßen herzlich; meine Frau will noch einen Brief für Marie beilegen.
Mit herzlichen Grüßen an alle Deine Kinder und besten Wünschen zum bevorstehenden Fest
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Privatbesitz
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Privatbesitz
1000
Neuhaus
, Helmut (Hg.): Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013.
Neuhaus
, Karl Hegels Gedenkbuch
2013
Neuhaus
, Helmut: Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert. Unter Mitarbeit von Katja Dotzler, Christoph Hübner, Thomas Joswiak, Marion Kreis, Bruno Kuntke, Jörg Sandreuther und Christian Schöffel (= Erlanger Studien zur Geschichte, Bd. 7/Katalog zur Ausstellung des Instituts für Geschichte der Universität Erlangen-Nürnberg vom 20. November bis 16. Dezember 2001), Erlangen, Jena 2001.
Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert
2001
Die Chroniken der deutschen Städte
vom 14. bis in’s 16. Jahrhundert, hg. durch die Historische Commission bei der Königl. Academie der Wissenschaften von Karl
Hegel
, Bd. 17, Die Chroniken der mittelrheinischen Städte. Mainz, bearb. von Karl
Hegel
, Bd. 1, Leipzig 1881. (https://dlibra.bibliotekaelblaska.pl/dlibra/publication/59564/edition/54929 )
Chroniken der deutschen Städte
, Bd. 17, Mainz, Bd. 1
1881
Stoecker, Adolf11861839318351909Stoecker, Adolf (1835–1909), in Halberstadt geborener evangelischer Theologe und Politiker, der nach seinem Studium an den Universitäten Halle und Berlin zunächst als Hauslehrer und Gemeindepfarrer tätig war. Nach seiner Zeit als Militärpfarrer in Metz wurde der kaisertreue und nationalistische Geistliche 1874 vierter – und 1883 zweiter – Hof- und Domprediger am Berliner Dom. Gleichzeitig wurde er Mitglied des Vorstandes der altpreußischen Generalsynode und Leiter der Berliner Stadtmission. Von 1878 bis zu seinem Tode war er Vorsitzender der von ihm gegründeten konservativen und antisemitischen Christlich-sozialen Partei.
Bismarck, Otto11851136X18151898Bismarck, Otto (1815–1898), in Schönhausen an der Elbe geborener preußischer und deutscher Politiker, der 1850 Mitglied des Erfurter Unionsparlaments war, von 1862 bis 1890 preußischer Ministerpräsident, zugleich von 1867 bis 1871 einziger Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes und von 1871 bis 1890 erster Reichskanzler des Deutschen Reiches.
Wilhelm I., König von Preußen, Deutscher KaiserWilhelm I., König von Preußen, Deutscher Kaiser11863288417971888Wilhelm I. (1797–1888), Prinz von Preußen, König von Preußen von 1861 bis 1888, ab 1871 auch Deutscher Kaiser.
Levetzow, Albert13320120118271903Levetzow, Albert (1827–1903), aus der Neumark stammender Rittergutsbesitzer, Jurist und Politiker der Deutschkonservativen Partei, oftmaliges Mitglied des Deutschen Reichstages und von 1881 bis 1884 sowie 1888 bis 1895 dessen Präsident. Nach seinem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Berlin, Heidelberg und Halle trat er 1849 in den Justizdienst des Königreichs Preußen und wechselte 1857 in die Verwaltung. Von 1867 bis 1876 war er Landrat des Kreises Königsberg in der Neumark und anschließend bis 1896 Landesdirektor des Provinzialverbandes Brandenburg. 1881 wurde er Präses der Provinzialsynode der Kirchenprovinz Brandenburg.
Richter, August Ferdinand13362394718221903Richter, August Ferdinand (1822–1903), aus der Nähe Merseburgs stammender evangelischer Theologe, der an den Universitäten Halle und Berlin studierte und dann Pfarrer wurde. Ab 1866 war er Mitglied der Nationalliberalen Partei und gehörte von 1862 bis 1879 dem Preußischen Abgeordnetenhaus an.
Frank, Franz Hermann ReinholdHermann Reinhold Frank11870287418271894 Frank, Franz Hermann Reinhold (1827–1894), in Altenburg geborener lutherischer Theologe, der der Erweckungsbewegung anhing und nach kurzer Tätigkeit im Schuldienst 1857 außerordentlicher Professor an der Universität Erlangen wurde. Von 1858 bis zu seinem Tode war er dort Ordinarius für Dogmatik.
Hegel, Wilhelm (Willi)Wilhelm Hegel13593263718491925Hegel, Wilhelm (Willi) (1849–1925), in Berlin geborener Sohn Immanuel (1814–1891) und Friederike Hegels (1822–1861), Ehemann Armgard Hegels, geb. Wulffen (1862–1928), und Neffe Karl Hegels. Er war hoher preußischer Verwaltungsbeamter, u. a. von 1886 bis 1890 Landrat des Kreises Jerichow I, von 1895 bis 1905 Regierungspräsident von Gumbinnen, von 1905 bis 1908 in Allenstein, von 1908 bis 1917 Oberpräsident der Provinz Sachsen. Es war von 1887 bis 1890 Mitglied des Deutschen Reichstages und wurde im Jahre 1909 in den erblichen preußischen Adelsstand erhoben.
Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell
Clara Hegel, geb. Flottwell116570776?18251912Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell (1825–1912), Tochter Eduard Heinrich Flottwells (1786–1865) und Auguste Flottwells, geb. Lüdecke (1794–1862), jüngere Schwester Friederike Hegels, geb. Flottwell (1822–1861), der ersten Ehefrau Immanuel Hegels (1814–1891) und dessen zweite Ehefrau ab 8. September 1865.
Hegel, Maria (Mariechen, Mimi)Marie HegelTochter Karl Hegels-18551929 Hegel, Maria (Mariechen, Mimi) (1855–1929), dritte Tochter Karl (1813–1901) und Susanna Maria Hegels, geb. Tucher (1826–1878), die ab 1878 dem verwitweten Vater den Haushalt in Erlangen führte.
Mariendorf52.44008,13.3900277Etwa zehn Kilometer südlich des Berliner Zentrums gelegene Gemeinde.
DeutschlandKulturgeschichtlich ist damit der Raum deutscher Nation und Sprache gemeint, wo „Teutschland“ im Laufe der Frühen Neuzeit eine Kurzbezeichnung für das „Heilige Römische Reich teutscher Nation“ wurde. Im 19. Jahrhundert wurde „Deutschland“ immer mehr zur inoffiziellen Bezeichnung für die deutschsprachigen Gebiete Mitteleuropas, zunächst das Gebiet des 1815 gegründeten Deutschen Bundes, dann des 1871 gegründeten Deutschen Reiches.
Waldenburg50.7659054,16.2825424Etwa 75 Kilometer südwestlich von Breslau am Rande des Riesengebirges gelegene, sich rasche entwickelnde Handels- und Industriestadt im Landkreis Waldenburg.
LiberalismusNeben dem Sozialismus und dem Konservativismus die dritte große politische Ideologie im 19. Jahrhundert, deren vielfältige Programme und Erscheinungsformen keine eindeutige Definition zulassen.
SynodeVersammlung von gewählten Laien und Geistlichen zur Leitung und Verwaltung der evangelischen Kirchen auf verschiedenen Ebenen, u. a. Stadt-, Provinzial- und Generalsynoden.
PräsesLeiter einer Synode der Altpreußischen Union.
Landesdirektor (Provinzialverband Brandenburg)Vom brandenburgischen Provinziallandtag gewählter Landeshauptmann der kommunalen Selbstverwaltung der preußischen Provinz Brandenburg.
Reichstag (Deutsches Reich)In der Tradition des Reichstages des Norddeutschen Bundes von 1867 stehendes Parlament des Deutschen Reichs, das von 1871 bis 1918 bestand und zusammen mit dem Bundesrat die Reichsgesetzgebung ausübte. Verfassungsrechtlich ist er verankert in Kapitel V, Artikel 20-32, der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871.
Universität GöttingenIm Jahren 1734 von Kurfürst Georg II. August (1683-1760) von Braunschweig-Lüneburg, von 1727 an auch König George II. von Großbritannien, gegründete Universität, deren Entstehung maßgeblich von Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen (1688-1770) betrieben wurde.
Doctor jurius utriusqueDie mittellateinische Bezeichnung meint den Doktor beider Rechte, d. h. des staatlichen und des kirchlichen Rechtes.
DoktorschmausVom frisch examinierten und bestellten Doktor, auch von Ehrendoktoren gegebenes Essen für seine akademischen Lehrer und Prüfer.
Evangelische Kirche der altpreußischen UnionDer preußische König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) verordnete am 27. September 1817 die Vereinigung der reformierten und lutherischen Kirchen zu einer Union in seinem Territorium, in dem er das landesherrliche Kirchenregiment ausübte. Nach 1866 wurden die preußischen Eroberungen nicht einbezogen, sodaß neben deren Landeskirchen die „Evangelische Landeskirche der älteren Provinzen Preußens“ fortbestand, zu denen Brandenburg, Ostpreußen, Pommern, Posen, Rheinland, Sachsen, Schlesien, Westfalen und Westpreußen gehörten.