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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 3. Juni 1882

Lieber Karl!

Deinen lieben Brief1 nach Deiner Rückkehr2 zu Hause habe ich leider noch nicht beantwortet; nun sende ich Dir aber zu Deinem bevorstehenden Geburtstage3 unsere herzlichen Grüße und Segenswünsche. Wir nahen uns beide rasch dem Ziele des Lebens und dies mahnt uns immer dringender, uns darauf auch ernstlich vorzubereiten. Es ist doch in dieser zeitlichen Unruhe ein großes Glük, daß wir uns sagen können: Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes! Ich sehne mich oft sehr nach dieser Ruhe; denn die Welt ist nicht dazu angethan, uns Glük und Frieden zu geben, und wenn ich überzeugt bin, daß die kommenden Zeiten uns schwere Heimsuchungen und Kämpfe bringen werden, so fühle ich bei zunehmendem Alter nicht mehr die Kraft, um dann, wie es Noth thun wird und Pflicht und Gewissen fordern werden, als rüstiger Kämpfer mit einzutreten. Ich hoffe jedoch, daß ich es an der Treue bis ans Ende nicht fehlen lassen werde.

Man wird jetzt mit Beginn des Sommers oft gefragt: wohin werden Sie gehen? und ich kann nur antworten: ich weiß es nicht. Die Welt ist zwar weit und sie empfiehlt sich an vielen Orten durch mancherlei Annehmlichkeit; doch ist es schwer für die eigenen Bedürfnisse den richtigen Punkt zu finden. Ich überlasse diese Ueberlegung meiner Frau, die ist aber noch lange nicht damit zum Abschluß gekommen. Ich selbst bin abgearbeitet und bedarf der Kräftigung, auch Katarrh und Magen haben Besserung nöthig; kurzum die alte Maschine fängt an, an vielen Stellen zu hapern. Ebenso muß für Klärchen ein ruhiges Plätzchen mit stärkender Luft und guter Verpflegung gesucht werden, und da wir beisammen bleiben wollen, so werden wir nicht in eine große Ferne schweifen.

Unser Familienleben hat durch die Uebersiedlung der Waldenburger Kinder nach Berlin eine sehr erfreuliche Erweiterung erfahren. Sie haben eine schöne Wohnung in der Corneliusstraße am Schiffahrtskanal4 in der Nähe des zoologischen Gartens bezogen; der älteste Knabe Conrad besucht das Joachimsthaler Gymnasium, welches hinter diesem Garten gelegen ist. Alle drei Kinder sind gut geartet, wohlerzogen und sehr liebenswürdig. Rudel hat als Hülfsarbeiter im Ministerium des Innern viel zu thun und hofft auch hier definitiv angestellt zu werden. Willy arbeitet tapfer im geistlichen Ministerium5, muß nun aber beim Kaiser-Alexander-Regiment eine 2 monatliche Uebung zum Premierlieutenant6 abmachen, die ihm körperlich ganz gut bekommen wird.

In den letzten zwei Wochen fand sich Veranlassung zu zwei angenehmen Ausflügen. Zum Himmelfahrtstage7 hatte uns der Graf von Zieten-Schwerin zu einem Besuch auf seinem schönen Gute Wustrau bei Neu-Ruppin eingeladen. Es ist dies das Gut des alten berühmten Husarengenerals Zieten, mit herrlichem Park am Ruppiner See gelegen. Der Graf ist ein thätiges Mitglied des Herrenhauses, politisch-konservativ und kirchlich-konfessionell, bei großem Vermögen außerordentlich freigebig in der Unterstützung kirchlicher und wohlthätiger Zwecke. Er und seine Frau, beide edle Charaktere von gediegener Bildung, aber ganz schlicht und anspruchslos in ihrem Benehmen. Auch ihre Häuslichkeit mit einer großen Zahl von Kindern und noch mehr Hausgenossen, Beamte und Dienstboten sehr anständig, aber ohne vornehmen Prunk. Es war sehr erbaulich, wie der Graf mit allen zusammen Morgens und Abends die Hausandacht hielt.

Zum Pfingstfest8 folgten wir wieder der gewohnten Einladung nach Pessin zu Knoblauchs im grünen Havelland. Die reich bestandenen Felder boten einen herrlichen Anblick. Wir fuhren schon am Donnerstag9 Abend hin, um am nächsten Tage in der Nähe der Einweihung einer neuen Kirche in Liepe beizuwohnen, welche der treffliche, besonders durch seine große Demuth und Bescheidenheit überaus liebenswürdige Graf Bredow als Patron dort erbaut hatte; eine massive Dorfkirche in einfachem guten Styl und im Innern sehr geschmackvoll ausgeschmükt und eingerichtet. Das Fest war vom Wetter sehr begünstigt; Kögel vollzog die Einweihung; viele Pastoren, auch Stoecker aus Berlin und eine große Zahl von Gästen der Nachbarschaft nahmen an der kirchlichen Feier und dem Festmahl, Theil. In Pessin verweilten wir bei schönstem Wetter noch bis Dienstag10 Morgens und verlebten recht gemüthliche Tage in dem liebenswürdigen Familienkreise.

Die nächste Woche wird durch die Pastoral-Konferenz und die dazu gehörigen Mitglieds- und Festversammlungen angefüllt sein. Dann folgen die Versammlungen der Berliner Kreissynoden, bei denen es an heftigen Kämpfen und wohl auch an Skandal nicht fehlen wird. Auch beginnen die Vorbereitungen zu den kirchlichen und politischen Wahlen, die voraussichtlich Alles überbieten werden, was der Art bisher da gewesen ist, und – so geht es weiter!

Zum Schluß noch herzliche Glückwünsche zu Deinem Geburtstage von Clara und allen meinen Kindern und freundliche Grüße für Deine lieben Kinder

Dein Bruder Immanuel