XML PDF

Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 23. Juli 1882

Lieber Karl!

Dein lieber Brief vom 9ten vorigen Monats1 enthält erregte Betrachtungen darüber, daß wir – und es gilt dies für uns Beide – mit raschen Schritten dem Ende unseres Lebens entgegen gehen und daß wir uns darauf im Aeußeren und innerlich vorzubereiten haben. Es ist dies gewiß sehr nothwendig und es beschäftigen sich daher auch meine Gedanken oft genug, und ich möchte sagen, täglich mit dieser wichtigsten Lebensfrage. Denn wenn auch das zukünftige, das ewige Leben von Nebeln umhüllt ist, daß wir die bestimmte Gestaltung desselben nicht erkennen können, so kann es uns doch nicht zweifelhaft sein, daß es davon bedingt sein wird, wie wir in dieser Gnadenzeit gelebt haben, und daß in der Rechenschaft, die wir dann abzulegen haben, die Barmherzigkeit Gottes durch die Vergebung unserer Sünden in Christo Jesu anrufen müssen. Darum sage ich auch: wer weiß, wie nahe mir mein Ende!2 und suche mich fest und stark zu machen für dem letzten Kampf in der Stunde des Todes. Gott wolle uns darin gnädig beistehen und alle Anfechtung von uns treiben!

Du sprichst davon, daß Du mit Vollendung des 70sten Lebensjahres in den Ruhestand treten möchtest; ich kann Dir dies nicht verdenken und halte es für eine sehr angemessene Einrichtung, welche dieses Ausscheiden aus dem Staatsdienst mit vollem Gehalt gestattet. In Preußen sind alle solche Verhältnisse knapper geordnet; erst durch ein kürzlich erlassenes Gesetz ist es zugelassen, im Alter von 65 Jahren und bei einem Dienstalter von 45 Jahren sich mit voller Pension d. h. ¾ des Gehalts pensionieren zu lassen. Ich bin daher berechtigt, hiervon Gebrauch zu machen, und es wandelt mich auch oft das Verlangen darnach an, da mir auch meine Arbeitslast immer schwieriger wird und die Zustände, mit denen ich zum Theil zu kämpfen habe, recht widerwärtig sind. Ich bin aber durch Pflicht und Gewissen so sehr an meine Stellung und Wirksamkeit gebunden, daß ich den Wunsch nach Ruhestand nach keiner Seite nur irgend wie laut werden lassen darf, und wenn ich mich auch pensioniren ließe, so würde es auch kein wirklicher Ruhestand sein, in dem ich leben könnte. Zu wünschen bleibt es aber immer, daß man seine Lebenskräfte nicht im Amt völlig erschöpft.

Zunächst kommt es nur darauf an, im Urlaub einen zeitweiligen Ruhestand zur Erholung zweckmäßig zu benutzen. Es ist mir immer im Sommer eine schwierige Frage, welche von meiner Frau lebhaft behandelt wird, während ich unter gewissen Bedingungen mich viel mehr passiv dabei verhalte. Zur Abwechslung soll es nun diesmal an die See gehen, weniger zum Bade, als wegen der Luft, die uns alle stärken soll, und da die weibliche Fantasie gern ins Weite schweift, so ist nun schließlich der Plan gefaßt, über Stettin und Swinemünde am nächsten Mittwoch3 nach Copenhagen und dann weiter nach Helsingör zu fahren, wo befreundete Damen uns in Marienlyst Quartier bestellen wollen. Nach kurzem Aufenthalt daselbst beabsichtigen wir aber an dortiger Küste, etwas nördlich bei Hellebeck4 ein angemessenes Unterkommen für längere Zeit zu finden. Es bleibt jedoch vorbehalten, in der Mitte August nach Sassnitz auf der Insel Rügen überzusiedeln, besonders in dem Falle, daß Rudel und Marie sich zu jener Zeit dorthin begeben. Marie hat jetzt mit ihren 3 Kindern in Freienwalde an der Oder Sommerquartier genommen und wird dort während der Schulferien bleiben. Die Nähe von Berlin gestattet es meinem Schwiegersohn, der hier noch im Amt fest gebunden ist, des Sonntags zu ihnen zu fahren. Im August aber hofft er auch sich auf mehrere Wochen frei machen zu können und will dann sich am Strand der Ostsee erfrischen.

Klärchen wird mit uns Seeluft am Kattegat genießen und es bleibt dann Willy allein zu Hause zurück. Er wird in einigen Tagen seine militärische Uebung beendigen und muß sich dann um so eifriger in den Akten vertiefen. Das ist auch im heißen Sommer das Geschick der jungen Hülfsarbeiter im Ministerium.

Mit herzlichem Interesse haben wir Deine Mittheilungen über Kinder und Kindeskinder und Eure mannigfachen Erlebnisse aufgenommen. Nach der beschwerlichen Absolutorialprüfung in Bamberg wird es Dir eine angenehme Erfrischung sein, das Jubiläum in Würzburg mitzufeiern.5 Der Frankenwein wird sich Euch in seiner edelsten Gestalt, im Boxbeutel vorstellen. Hernach wäre es sehr erfreulich, wenn Ihr Euch mit Kleins im freundlichen Thüringen vereinigen könntet.

Clara und Klärchen tragen mir viele herzliche Grüße an Dich und Deine Kinder auf.

Mit den besten Wünschen
Dein Bruder
Immanuel

P. S. Vom grünen Seeland aus werde ich Dir von unserem Ergehen Nachricht geben.6