Nach der mannigfachen Abwechslung, welche der Sommer dargeboten hat, sind wir nun in den Herbst eingetreten, und dieser scheint durch freundliches Wetter die Welt für manche Unbill durch Regen und Gewitter entschädigen zu wollen. Dagegen hat er uns die heftigen Stürme der Wahlen1 gebracht, welche jetzt in Preußen die Menschen in Staat und Kirche leidenschaftlich bewegen. Es fallen die Wahlen im Ganzen konservativer aus, als erwartet werden durfte; die Konservativen lernen endlich sich selbst anzustrengen und sich nach dem Vorbild der Liberalen der nöthigen Agitationsmittel zu bedienen. Dies ist freilich ein gefährlicher Fortschritt und der sittliche Gewinn erscheint dabei sehr zweifelhaft. Wenn aber die Grundlagen des Staats auf Unwahrem erbaut werden, so wird man jenes Beiwerk als nothwendiges Uebel mit in den Kauf nehmen müssen. Zur kräftigen Gesundheit des Staats und zur sittlichen Kultur der Menschen möchte dies freilich nicht der richtige Weg sein, und unsere Kinder werden die Folgen davon zu erleben haben. Am meisten beklage ich aber und ich werde unmittelbar davon be- rührt, daß diese Wahlwirthschaft auch in unserer Landeskirche durch ihre moderne Verfassung unter dem Regiment von Falk und Herrmann übertragen worden ist. Nichts ist dem Wesen und der Bestimmung der Kirche mehr zuwider, als dieser periodisch durch die Wahlen in die einzelnen Gemeinden hineingeworfene Kampf der Partheien, durch welchen in diesen engen Kreisen Haß und Zwietracht unter den Menschen entflammt wird, und bald die eine, bald die andere Parthei zur Herrschaft in der Verwaltung gelangt. Bei der ungebrochenen Macht des Liberalismus in der Berliner Bevölkerung war es nicht zu verwundern, daß die Liberalen auch in die kirchlichen Gemeindeorgane, mit wenigen Ausnahmen, wie St. Matthäus zur Regierung gelangten. Jetzt sind sie aber zur großen Ueberraschung in den meisten Gemeinden bei den Wahlen der letzten Tage geschlagen worden. Man kann diese merkwürdige Erscheinung wohl daraus erklären, daß der Liberalismus im Allgemeinen sich überlebt und sein Selbstvertrauen und damit seine frühere Energie verloren hat; doch wird er in der Bildung und Gewohnheit der Menschen noch lange fortleben, wenn auch von ihnen das Bedürfnis und Verlangen nach festen Ordnungen zur Bewahrung von Gesittung und Religion im Volk empfunden wird. Die jetzt eingetretene Veränderung haben wir aber doch vornehmlich der energischen und unermüdlichen Wirksamkeit unseres Freundes Stoecker zu verdanken, der überall die Menge des Volkes um sich versammelt und ihnen mannhaft in einschlagender Rede den Segen des Christenthums, als den einzigen Weg des Heils und der Rettung vor dem wachsenden Verderben eindringlich vorgestellt hat. Er hat die Macht der Demokratie in ihnen erschüttert. Es ist auch durchaus nothwendig, sich um die Notstände des Volkes ernstlich zu kümmern, auf seine Gedanken und Stimmungen Einfluß zu gewinnen; dies ist freilich eine schwierige Arbeit, und wenige Menschen, abgesehen von denen, welche sich des Volkes aus Ehrgeiz zu selbstsüchtigen Zwecken bemächtigen, haben dazu die Liebe, Selbstverläugnung, den Muth, das Verständniß und das Geschik. Diese Gaben erkennen wir aber in Stoecker und darum wird er von uns hochgeachtet und sind wir ihm in seinen Erfolgen zu großem Dank verpflichtet.
Während ich mich von Amtswegen mit den kirchlichen Wahlen zu beschäftigen habe und auch in einzelnen brennenden Fällen durch die mir zu Gebot stehende Presse einzuwirken suche, hat mein Schwiegersohn Bitter den Beruf, im Ministerium des Innern an der Leitung der politischen Wahlen Theil zu nehmen. Er treibt viel mit seiner gewohnten Energie und wie es scheint, auch mit gutem Erfolg. Der Minister von Puttkammer hat dies auch dadurch anerkannt, daß er ihn zum Geheimen Regierungsrath und vortragenden Rath in seinem Ministerium befördert hat. Er ist dadurch in jungen Jahren auf die höhere Stufe amtlicher Stellung gelangt. Für uns ist es besonders auch erfreulich, daß das Verbleiben der Kinder in Berlin jetzt gesichert ist. Rudel war auch in voriger Woche in Waldenburg, um sich seinen Wählern, deren Abgeordneter er bisher war, von Neuem als Kandidat zur Wiederwahl vorzustellen. Bei dieser Gelegenheit wurde ihm als früherer Landrath ein großes Abschiedsmahl bereitet und ihm reiche Ehrengeschenke, silberner Tafelaufsatz, Tafelservice und Stutzuhr mit stattlichen reich geschmükten Adressen überreicht, als wenn er sein Jubiläum feierte. Jedenfalls sind es erfreuliche Zeugnisse der Anerkennung seiner 7jährigen dortigen Wirksamkeit. Zum Kreise gehören reiche Fabrikanten und der Fürst Pless, die sich splendid erweisen wollten.
Du wirst jetzt auch Deine Wintervorlesungen angefangen haben. Von der Versammlung der historischen Kommission und dem Bericht über ihre stetig fortschreitenden Arbeiten2 habe ich in den Zeitungen mit Interesse gelesen. In München wirst Du gewiß die Verwandten gesehen haben; nach der Zeitung soll Harsdorf Aussicht haben, Präsident des Ober-Konsistoriums zu werden.3 Es wäre diese Berufung für ihn, die Familie und wohl auch für die Kirche erfreulich. Wir wünschen von Dir aber auch nähere Nachricht über die liebe Anna Mangelsdorf zu erhalten; wir haben leider gehört, daß sie wieder erkrankt sei.
Clara und meine Kinder senden Euch herzliche Grüße. Mit den besten Wünschen