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Karl Hegel an Anna Klein, geb. Hegel, Erlangen, 3. Dezember 1882

Meine liebe Anna!

Du hast uns wiederholt Nachricht von dem schweren Leiden gegeben, welches Deinen lieben Mann und mit ihm Dich bedrückt und an dem auch wir innigen Antheil nehmen. Das Leiden ist von der Art, daß es selbst auf seine Wurzel und, wie sich bei jeder ärztlichen Untersuchung gezeigt hat, einzige Ursache hinweist, der man nicht anders beikommen kann als mit dem eignen freien Willen, der sich in die Nothwendigkeit ergibt, und das heißt in diesem Fall, in die Beschränkung der geistigen Arbeit auf dasjenige Maaß, bei welchem der Mensch in geistiger und leiblicher Gesundheit bestehen kann. Wer sich nicht freiwillig ergibt, der wird durch die Natur gezwungen es unfreiwillig zu thun, was viel schlimmer ist und noch schwerer drückt. Gewiß mit Recht meint der erfahrene Arzt, daß eine bloße Reise allein und geistige Zerstreuung für einige Zeit, wenn sie auch gewiß von gutem Nutzen sein kann, doch auf die Dauer nichts hilft, wenn nachher die frühere Weise des Arbeitens wieder aufgenommen würde. So hat auch der mehrwöchentliche Aufenthalt in Tabarz für Felix keine Erholung gebracht, während er dort eine schwere mathematische Arbeit vollendet hat. Bei seiner hohen Begabung und seinem gewaltigen Trieb und Ehrgeiz wird es ihm fast unmöglich sich selbst Einhalt zu thun, aber vielleicht vermag es doch sein starker Wille, und ich hoffe immer noch darauf, daß er durch ihn sich selbst bezwingen und darin seine Rettung und Selbsterhaltung finden werde. Gordan meint: Klein müsse aufhören, sich unmögliche Probleme zu stellen, solche die zwar nicht in sich selbst unmöglich seien, für welche aber das mathematische Denken noch nicht weit genug fortgeschritten sei und an denen sich Jeder, auch der Stärkste der sich damit beschäftige, ruinieren müsse. Klein sei dadurch in eine gereizte Stimmung gerathen, wie sich in seiner Polemik gegen Fuchs zu erkennen gegeben habe, mit der er (Gordan) sich nicht einverstanden erklären könne. Als ich ihn aber weiter fragte, was denn nun seiner Meinung nach Klein thun solle, um sich aus seinem gegenwärtigen Leiden heraus zu helfen, da man ihn doch bei seiner Natur nicht zum Nichtsthun, zur bloßen Langeweile oder nichtigen Zerstreuung verdammen könne, – versteht sich, wenn er es sich gefallen lassen wollte, woran ja gar nicht zu denken ist – so meinte er, Klein müsse sich eine Zeit lang, abgesehen von seinen Vorlesungen die ihm keine große Mühe machen würden, mit ganz anderen wissenschaftlichen Interessen und Aufgaben, wie zB. z. B. naturwissenschaftlichen oder nationalökonomischen, zu schaffen machen, mit geistreichen Männern dieser Fächer, woran es in Leipzig nicht fehle, in Verkehr treten, um das rein mathematische Denken ruhen zu lassen. Solches war die Unterhaltung, die ich heute Nachmittag mit Gordan den ich zufällig antraf, auf dem Spaziergang nach der Schleifmühle hatte, und mich dünkt, es war viel gesunder Menschenverstand in Allem, was dieser treffliche Freund sagte. Ich überlasse Deiner Beurtheilung, ob Du Felix etwas davon mittheilen willst. Vielleicht ist es unnütz, kann ihn ärgern und reizen; doch er ist gewiß ein Mensch von klarstem Verstand und von großer Thatkraft und wird sich nicht von Stimmungen beherrschen lassen, sondern den rechten Weg entschlossen ergreifen, ich meine den, den die Natur selbst ihm vorschreibt. Und Du, meine liebe Anna, wirst ihm dabei, wie immer bisher, eine treue Helferin sein, und wirst Dich nicht durch die Trübsal herunter drücken und entmuthigen lassen, sondern, so wie ich Dich kenne, den Kopf oben behalten und Deinem Manne in seinem Hause so viel Ursache zur Freude und inneren Befriedigung darbieten als nur ein glückliches Familienwesen bereiten kann. Tröstlich ist es dabei auch für mich, die brave und tüchtige Eugenie bei Euch zu wissen, die Dich nicht bloß im Hauswesen und bei den Kindern unterstützt, sondern besonders auch durch ihre jugendlich lebendigen Interessen Anregung und Abwechslung mancherlei Art hereinbringt. Ich grüße sie und Deinen lieben Mann herzlich und bin so lange ich noch lebe

Dein treuer Vater.

P. S. Ich lege Sigmunds ersten Brief aus München bei, der mir Freude gemacht hat, und wünsche ihn gelegentlich wieder zurück.