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Karl Hegel an Anna Klein, geb. Hegel, Erlangen, 14. Juni 1885

Meine liebe Anna!

Herzlichen Dank gebe ich Euch zurück für Eure guten Glückwünsche. Der Geburtstag1 wurde mit einem Diner gefeiert, an dem Grundherrs und Löffelholz’ abwesend waren, nachdem sie abgesagt hatten; Mimi Pfaff  und Lommel’sche Kinder nebst Stütze des Hauses bildeten den erfreulichen Ersatz. Es war allerdings sehr heiß, so wie auch heute wieder. Morgens und abends erfreuen wir uns des Gartens, aus dem heute Nacht die schönste Rose durch einen frechen Einsteiger gestohlen wurde.

Am 4. Juni kam ich von der Reise zurück, auf der ich 12 Tage zugebracht2, davon 4 in Rostock und 3 in Göttingen. Am 24. Mai, da ich Euch verließ, erreichte ich abends Schwerin. Es war mir wunderbar zu Muthe dort, wo ich den folgenden Vormittag blieb, und noch mehr in Rostock, wo ich bei Regenwetter ankam, wie überhaupt im Lande Mecklenburg, das mich durch seine mir wohlbekannte Landesart, Natur und Menschenschlag und Sprache ganz anheimelte. Und wie herzlich wurde ich überall von den alten Freunden, die noch leben, aufgenommen! so in Schwerin von der guten alten Frau RegierungsRäthin Prosch und ihrer Tochter, verwittwete Schulze, in Rostock von den Wittwen und Familien Röper, Stannius und dem alten tauben Fritzsche, von der guten Frau Dr. Brandis, meiner Susanna nächsten Freundin. Baumgarten, der ehrliche aber eitle Märtyrer, faßte mich gleich am ersten Abend in der Societät und setzte sich mir an die Seite. Von der Familie Karsten fand ich nur die Tochter Adele, die allein lebt, und mich, der sie von meiner Anwesenheit in Rostock hörte, im Gasthof aufsuchte – ein liebes gutes Wesen. Ich lernte bei den Zusammenkünften des Vereins, die in den folgenden Tagen stattfanden, und bei denen Vorträge, Frühstücke, Mittagessen, einer Wasserfahrt nach Warnemünde, einer Bahnfahrt nach Doberan abwechselten, Rostocker und auswärtige Professoren lernte ich kennen und fand alte Bekannte wieder. Auch Waitz kam auf einen Tag, direct von Kopenhagen auf dem Wege nach Berlin zurück.

Die Stadt hat sich nach außen hin sehr erweitert, wo früher nur eine Straße, Friedrich-Franz, wo wir wohnten3, im Halbkreis den Wall umgab, sind jetzt deren 4 hintereinander, mit zum theil stattlichen Häusern und Villen, meist mit hübschen Gärten. Die meisten Professoren wohnen dort elegant und behaglich. Die Universität hat ein schönes Collegienhaus und neues Bibliotheksgebäude, und stattliche medicinische Anstalten gewonnen: Alles macht einen guten und soliden Eindruck. Es war mir wohlthuend, wie gut man mich aufnahm, mich auch öffentlich ehrte, mir dieses und jenes Verdienst, das ich längst vergessen glaubte, hoch anrechnete. In Erlangen habe ich wenig davon erfahren, daß man für etwas, das ich gethan, Dank weiß. Vielleicht wird man es rühmen, wenn ich dahin bin!

Auf dem Wege nach Göttingen war ich an einem heißen Nachmittage zwei Stunden in Lübeck, wo ich leider Kierulff verfehlte. Ich übernachtete in Lüneburg und sah dort das berühmte Rathhaus mit der alten Gerichtslaube – der prächtige Silberschatz ist in Berlin. Am Nachmittag wurde ich von Senator Römer im alten Hildesheim, reich an merkwürdigen Baudenkmälern und Kunstschätzen, herumgeführt. Von da kam ich nach Göttingen in Gebhards Hotel, am Samstag Abend. Auf Sonntag Mittag war ich zum voraus durch Telegramm, von Jhering an seinen Schwiegersohn Prof. Ehrenberg in Rostock gerichtet, eingeladen. Mit Schmerz vermißte ich meinen lieben Freund Thöl in seinem Gebhards Hotel nahe gelegenen Hause, fand dort seine Schwägerin Adolphine (aus Rostock) und seinen Sohn, Landrichter. Frensdorff und Schröder, der erst vor kurzem aus Straßburg (er war vorher in Würzburg) kam, sah ich bereits in Rostock und nun hier wieder. Ferner Kluckhohn, der sich eben ein neues Haus gebaut hat, Vollmöller und –  Schöne, jetzt Bibliothekar in Göttingen, und Ehlers. Jherings Diener machte seinem gastronomischen Ruf Ehre – es gab 10 Sorten Wein! Drei neue Collegen mit Frauen und andre waren zugegen. Ich saß zwischen der Frau Geheimräthin, der Hauswirthin, und dem Kirchenhistoriker Reuter, Abt von Lokkum4. Jhering sprudelte wie sonst von Witz und Humor. Die Göttinger Professoren leben, wie es scheint, recht collegialisch miteinander. Wie in Rostock wohnen auch hier die meisten außerhalb der Stadt, in elegant eingerichteten Häusern mit Gärten. Ein solches Haus, wie das von Kluckhohn, kommt auf 36–40000 Mark. 5