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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Walzenhausen, 29. Juli 1885

Lieber Karl!

Indem ich Dir von hier aus schreibe, ist es meine erste Pflicht Dir für die Empfehlung dieses Ortes unseren herzlichen Dank auszusprechen. Da wir erst am nächsten Montag den 3ten August in Engelberg – Kanton Obwalden – im Hotel des Herrn Cattani zum „Engel“ Aufnahme finden können, und daher eine vorausgehende Station wählen mußten, so erinnerten wir uns, daß es Dir hier beim Besuche der Frau Gervinus sehr gut gefallen hatte. Wir sind nun auch sehr zufrieden mit diesem Aufenthalt. Die Lage des Hotels ist sehr schön mit dem freien Blick auf den wundervollen Bodensee und auch bei dem ununterbrochen schönen Wetter, dessen wir uns erfreuen, weht hier oben immer ein kühler frischer Wind. Gegen Sonne und Wind hat man auch in dem am Abhang hinter dem Haus gelegenen Wäldchen genügend Schutz und auf die vorliegende Anhöhe führen viele abwechselnde Wege mit herrlichen Aussichten. Am Sonntag1 Nachmittag machten wir den Spaziergang nach der Meldegg mit der schönen Aussicht in das Rheinthal. – Unser Hotel ist zweiten Ranges, ganz gemüthlich, mit guter Verpflegung, ohne Juden, fast ausschließlich von Schwaben und Schweizern besucht, die sehr ver- wundert, daß auch Berliner hierher verschlagen worden.

Deine liebevolle Einladung Klärchens nach Erlangen hat uns zu herzlichem Dank bewegt und es wurde uns schwer zur Zeit nicht darauf eingehen zu können. Deine früheren freundlichen Aufforderungen zu solchem Besuch waren wohl keinesweges vergessen; wir verbanden sie aber jetzt mit unseren Reiseplänen nicht, weil doch die Wochenbetten Deiner beiden Töchter in nächster Zeit in Aussicht standen und wir dazu nicht wohl einen Gast anmelden konnten. Nun hat es freilich an beiden Orten einen recht erfreulichen Verlauf genommen; als jetzt aber Deine Einladung eintraf, waren alle Vorbereitungen unserer Reise in dem Maaße getroffen, daß wir sie nicht, ohne äußere Noth, mehr verändern konnten. Wir bitten Dich daher mit dem Ausdruck unseres wärmsten Dankes uns zu gestatten, Klärchens Besuch unter geeigneten Umständen auf ein folgendes Jahr zu verlegen. Klärchen wird, das darf ich versichern, zu jeder Zeit mit herzlicher Freude in das Haus ihres lieben Onkels einkehren. Hoffentlich ist auch ferner bei Lommels und Kleins Alles befriedigend verlaufen und wir bitten ihnen unsere herzlichen Grüße und Segenswünsche zu überbringen.

Unsere Reise hierher ist ganz glüklich verlaufen. Am Donnerstag2 Abend – am Vormittag hatte ich noch die letzte Konsistorialsitzung abzuhalten – nahmen wir von Willy auf dem Anhalter Bahnhof Abschied; er muß noch an 4 Wochen in angestrengter Arbeit bis zum Antritt seiner Reise in Berlin ausharren. Clara und Klärchen fuhren im Damenkoupe und ich im Schlafwagen, der mir die Nachtfahrt sehr erleichtert. Ich unterhielt mich sehr angenehm mit meinem Schlafkameraden, und als wir uns beim Abschied in München rekognoscirten3 gab er sich als der Schauspieler Berndal aus Berlin zu erkennen. Ich hatte ihn für einen wohlhabenden Industriellen gehalten und in seinem Wesen keine Spur seiner künstlerischen Thätigkeit gefunden; er ist mir aber persönlich recht schätzbar geworden. In München besuchten wir mit großem Genuß die alte Pinakothek mit ihren überreichlichen wundervollen Kunstschätzen, und gegen Abend fuhren wir nach Schwabing zu Harsdorfs, die jetzt ein von Vetter Siegmund gekauftes Haus in der Kaiserstraße4 bewohnen. Wir fanden sie Alle – außer Harsdorf, der immer auf seinem Gericht verweilt – zu Haus, auch die liebe Tante Thekla, und da sie uns zum Thee bei sich behielten, so verlebten wir mit ihnen einen sehr gemüthlichen Abend.

Am Sonnabend5 Morgen fuhren wir nach Lindau in der angenehmen und interessanten Gesellschaft des Provinzial Schulraths Höpfner aus Coblenz; er war vor Zeiten Lehrer am Wilhelms-Gymnasium in Berlin und hat Willy und Marie unterrichtet. Ohne Aufenthalt fuhren wir im herrlichsten Sommerglanz über den Bodensee nach Rorschach und nachdem wir dort auf dem Bahnhof zu Mittag gespeist, fuhren wir über Rheineck hierher, wo wir bei guter Zeit anlangten. Wir beabsichtigten nun hier bis zum nächsten Montag6 zu verweilen und dann nach Engelberg zu übersiedeln. Wir werden Dir sehr dankbar sein, wenn Du uns bald dorthin von Euch Nachricht geben wirst.

Clara und Klärchen tragen mir herzliche Grüße an Dich und Deine Kinder auf. Mit vielen guten Wünschen

Dein Bruder
Immanuel