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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Engelberg, 6. August 1885

Lieber Karl!

Das war wohl eine Ueberraschung, als ich Deinen Brief1 mit dem Bilde von Gastein als Ueberschrift empfing, und wir freuen uns herzlich, daß Du dort nun auch eine Erholung gesucht und sie in liebenswürdiger Gesellschaft von Friedrich und Lina von Grundherrs gefunden hast.2 Ich bitte Beiden unsere herzlichen Grüße zu überbringen. Und nun dabei der alte Kaiser und die Erwartung des oesterreichischen Kaiserpaares, welche dort heute eintreffen werden! In Gesicht und Haltung kommen freilich bei unserem ehrwürdigen Kaiser die Spuren des Greisenalters immer mehr zum Ausdruck; sein Gedächtniß ist aber noch wenig geschwächt und sein Auge lebensvoll, wenn er spricht. Es ist eine wunderbare Erscheinung, noch er auch in Pflichttreue das Regiment in fester Hand behält. – Der plötzliche Tod von Berndal in Gastein hat mich herzlich bewegt3; wie ich Dir schrieb, wenn ich nicht irre, fuhr ich mit ihm im Schlafwagen von Berlin bis München und habe mich mit ihm, ohne ihn zu kennen, als einem gebildeten Mann sehr angenehm unterhalten.4

Wir haben am Montag, dem 3ten dieses Monats Walzenhausen, sehr befriedigt von dem gemüthlichen Aufenthalt und angenehmen Verkehr mit Schwaben und Schweizern verlassen; wir hatten in der ganzen Woche herrliches Wetter, und auf der Höhe der Rheinburg erfrischte uns immer ein kühler kräftiger Seewind. Wir fuhren von Rheineck über Rorschach, St. Gallen, Zürich nach Luzern in großer Hitze und bei viel Menschengedränge. Am Abend kam ein heftiges Gewitter und kräftiger Regen. In Luzern übernachteten wir am Bahnhof gut im St. Gotthard5. Am folgenden Morgen war klares Wetter und wir hatten eine schöne Fahrt auf dem Vierwaldstätter See nach Stansstad und von hier im Wagen durch das reiche Thal von Stanz und herrliche Buchenwälder nach Engelberg. Man kommt bei einer plötzlichen Wendung der Straße in dies breite Gebirgsthal, völlig eingeschlossen von dem mit Schnee und Gletschern bedekten Titlis und andern mächtigen zackigen Bergkolossen. Im „Engel“  fanden wir zwei sehr nett und gemüthlich – gebirgsmäßig – eingerichtete Zimmer zu unserer Aufnahme bereit, und konnten auch gleich mit der ganzen Gesellschaft zu Mittag speisen. Dieselbe ist allerdings sehr groß, im Ganzen bürgerlich; die Engländer, Juden und Reichen wohnen im Titlis6 und dem Sonnenberg7. In unserem Hause wohnen als Bekannte Frau Obersten von Zieten mit zwei Töchtern8 – Wittwe des Obersten von Zieten, Vetter von Flottwells9, der als Kommandeur der Zieten-Husaren in dem berühmten Kavallerie-Angriff10 bei Mars la Tour gefallen ist –, der Professor Richard Lepsius, ältester Sohn des bekannten Aegyptologen, mit seiner jungen Frau Dora Curtius, jüngster Tochter unseres Olympiers. Der hiesige Aufenthalt und die Lage stehen im großen Kontrast zur Rheinburg über dem breiten im bläulichen Sonnenschimmer glänzenden Bodensee. Hier ist Hochgebirge, die Luft angenehm; ich finde in ihr nichts Auffallendes. Die Gesellschaft ist so groß und mannigfaltig, daß ein Jeder sich ungenirt, wie er will, bewegen kann. Gestern Nachmittag stellte sich wieder Gewitter mit starkem Regen ein; heute Vormittag strahlten Berge, Wälder und Wiesen im Sonnenglanz. Wir wohnen hier ganz nahe bei dem stattlichen Benediktinerkloster, von dessen Thürmen reichliches Geläute erschallt.

Clara und Klärchen befinden sich beide ganz wohl, unser Kind hat auch anstrengende Partien mit Lust und ohne Beschwerden bestanden; sie tragen mir herzliche Grüße auf und wir bringen Dir auch unsere vollen Segenswünsche zur Taufe Deines jüngsten Enkels in Erlangen.

In herzlicher Liebe
Dein Bruder
Immanuel