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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Engelberg, 26. August 1885

Lieber Karl!

Da unser Aufenthalt hier zu Ende geht, will ich Dir noch einen Gruß aus den Alpen senden. Nach Deinem lieben Brief vom 8ten dieses Monats1 aus Gastein nehme ich an, daß Du nun auch heimgekehrt sein wirst. Du hast schöne Tage dort verlebt, besonders interessant durch die Begegnung der beiden Kaiser. Wir sehen auch mit innigem Dank auf die Wochen zurük, die wir mit ungetrübtem Behagen und reichem Genuß in der Schweiz zubringen durften; sie haben mir auch jedenfalls leiblich wohlgethan durch Kräftigung der Nerven und ich habe auf Wanderung in Berg und Thal mit meinen Beinen mehr leisten können, als ich erwartete. In den ersten Wochen hatten wir hier anhaltendes schönes Wetter, bei dem es sehr angenehm war, in der nahegelegenen Bänkli-Alp2 im Schatten schöner Waldung den Vormittag mit Lektüre zuzubringen, mit der ich mich ausreichend versehen habe. Im Laufe des Jahres lege ich manche interessante Bücher und Schriften bei Seite, mit der Hoffnung, sie im Sommer in den Bergen lesen zu können. Seit der letzten Woche ist das Wetter veränderlich geworden mit Gewitter und Regen, auch kalt, so daß man sich warm anziehen muß. Die Luft ist aber um so frischer und kräftiger und ich bin dankbar, daß ich sie vertragen kann, da sie bei Manchen Beschwerden verursacht. Dies hat auch leider unser Vetter Präsident Alexander von Harsdorf aus München erfahren müssen, der sich mit heftigem Zahnweh hier zu plagen hat. Er ist vor acht Tagen mit Wilhelmine und Tochter Lilli und der liebenswürdigen Anna Mangelsdorf zu längerem Aufenthalt angekommen. Letztere ist stark geworden, sehr wohl und munter und steigt mit Lilli in harmloser Mühe auf und über die Gebirge, wie wir es ihnen nicht nachmachen können. Im Uebrigen bildet sich im Laufe der Woche ungesucht manche angenehme Bekanntschaft. Zu dem Ehepaar Richard Lepsius und Dora, geborene Curtius, hat sich noch ein liebenswürdiger Bruder Reinhold Lepsius, Portraitmaler in München eingefunden. Eine merkwürdige Begegnung hatte ich mit Dr. Joseph Unger, Wirklichen Geheimen Rath Excellenz, Präsident des Reichsgerichts in Wien, mit dem ich im Laden eines Friseurs, wo ich mir die Haare schneiden ließ zusammentraf. Er hatte meinen Namen in der Kurliste gelesen und sprach mich nun an, da er mich an der Aehnlichkeit mit unserem Vater erkannt habe. Er gab sich als warmer Verehrer der Hegelschen Philosophie, die er mit Eifer studiert, zu erkennen. Er war vor Zeiten Professor und später liberaler Minister von Oesterreich; ein sehr freundlicher liebenswürdiger Mann.

Zu größeren Unternehmungen eignet sich das Thal von Engelberg in seiner Geschlossenheit nicht, wenn man nicht eigentlicher Alpensteiger ist. Im Thal finden sich aber überall angenehme, wohl befestigte Wege und das Besteigen der nächsten vorliegenden Berge ist in hohem Maaße belohnend, so besuchten wir die Gärchnialp, Schwandt, Fluhmatt u. a. Gestern machten wir bei herrlichem Wetter eine weitere Wanderung das Thal aufwärts nach dem Surennenpaß hin, der nach Altdorf im Reußthal hinüberführt, bis Nieder-Surennen, wo die Berge, Titlis, Grassen, die Spannörter, der Schlossberg mit ihren Schneeflächen und herabhängenden Gletschern immer näher herantreten und zuletzt der Weg durch eine öde Wildniß von Felsblöcken, zwischen denen sich der Gletscherstrom Bahn bricht, hinaufführt. Auch Clara und namentlich Klärchen haben diese Wanderungen tapfer und mit Lust bestanden und machen sich dabei das Vergnügen, Alpensträuße zu sammeln; Clara benutzt auch Ruhepausen zur Aufnahme einer Schrippe, während ich die mitgenommene Berliner Zeitung3 lese.

Am nächsten Sonnabend, dem 29sten dieses Monats beabsichtige ich nun von hier aufzubrechen und die Rükreise in mäßigen Tagesrouten zurükzulegen; die erste Nacht in Luzern, die zweite in Konstanz, was Clara inclusive Inselhotel gern kennen lernen möchte, die dritte über Lindau in München, von wo wir am Dienstag4 Nachmittag mit dem Kourierzug abfahren wollen, so daß wir, so Gott will, am Mittwoch Morgens um 8 Uhr unser Haus wieder betreten werden. Ich bin genöthigt, diesen Zug zu wählen, nicht allein weil er der schnellste ist – in 14 Stunden München über Regensburg – sondern auch weil ich hier allein den Schlafwagen benutzen kann. Daher mußten wir darauf verzichten, Euch auf der Durchfahrt in Erlangen zu begrüßen.

Clara und Klärchen, welche beide sich recht wohl befinden, tragen mir herzliche Grüße an Dich und an Deine Kinder auf, denen ich auch meine Grüße zu überbringen bitte.

Mit herzlichen Wünschen
Dein Bruder
Immanuel