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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 10. September 1885

Lieber Karl!

Die Anfrage Deines Sohnes Sigmund habe ich sofort und bevor ich Deinen lieben Brief vom 8ten dieses Monats1 erhalten, beantwortet und kann nur wiederholt versichern, daß sein Besuch uns durchaus keine Last verursachen, sondern nur Freude machen würde. Freilich wird unser Willy nicht anwesend sein und daher ihm keine Unterhaltung und keinen Beistand auf seinen Wegen und Fahrten in Berlin leisten können. Er wird aber mit Hülfe des Raths, den wir ihm dabei zu geben im Stande sind, sich – denke ich – auch selbstständig männlich zurecht finden und durchschlagen. Clara wird ihm in Willys Zimmer ein bequemes Obdach bereiten, wo er ungestört, mit Hausschlüssel ausgerüstet, hausen kann. Er mag uns nur Tag und Stunde seiner Ankunft vorher anzeigen und wird dann Alles bereit finden.

Am Mittwoch, den 2ten dieses Monats Morgens sind wir wohlbehalten heimgekehrt und haben unser Haus in guter Ordnung gefunden. Es erwartete mich aber auch viel Arbeit und ich bin daher dankbar, daß ich mich dazu auch gestärkt finde. Es steht mir nun eine unruhige und angestrengte Zeit bevor, da die Vorbereitungen zur Generalsynode, an derer ich auch als Mitglied des Generalsynodal-Vorstands Theil zu nehmen habe, beginnen. Die Synode wird zum 10ten October berufen werden und mindestens 3 Wochen dauern. In der ersten Hälfte des November sollen die Wahlen zum Preußischen Landtag statt finden und in der zweiten Hälfte der deutsche Reichstag versammelt werden. Welche Vielgeschäftigkeit des öffentlichen Lebens! Wenn man nun noch die Vereinsversammlungen, deutsche und internationale, Turner, Sänger, Naturforscher u. s. w. dazu rechnet, so begreift man, daß die Eisenbahnen und Bierbrauereien, somit Gastwirthe in dieser Zeit herrlich florieren.

In Engelberg hatten wir in der letzten Woche wohl veränderliches, doch nicht schlechtes Wetter, und immer schöne erquikliche Luft. Leider war der arme Harsdorf noch immer jede Nacht mit Zahnweh geplagt: es war die hohe Luft offenbar für ihn wie für manche andere zu aufregend und ich vermuthe, daß sie bald nach uns werden aufgebrochen und nach Heinrichsbad bei St. Gallen gezogen sein, wo bereits Tante Thekla angekommen war. Wir sind über Luzern, Konstanz, Lindau und München zurückgereist. Der halbe Tag, den wir programmmäßig in Konstanz zubrachten, wurde uns vollständig verregnet und dadurch die nach der Mainau projektirte Fahrt vereitelt. In München erfreuten wir uns an der alten Pinakothek und der Gräflichen Schackschen Gallerie, welche ich zum erstenmal und mit großem Interesse gesehen habe.

Hier haben wir unsere Kinder – Marie mit Mann und Kinder – ganz wohl angetroffen. Von Willy ist die letzte Postkarte aus Pontresina angekommen; er schreibt davon sehr entzückt und wollte nun nach Mailand und den Seen2, und dann nach Zermatt.

Clara und Klärchen bestellen herzliche Grüße für Dich und Deine Kinder; möchten die beiden Frauen sich auch bald von den Anstrengungen des Wochenbetts ganz wieder ganz erholen! Mit vielen guten anderen Wünschen

Dein Bruder
Immanuel