XML PDF

Georg Wyß an Karl Hegel, Zürich, 11. November 1885

Hochverehrter Herr College!

Eine Biographie Zschokke’s ist mir nicht bekannt, nur eine bey seiner Bestattung (30. Juni 1848) gehaltene Rede auf ihn: „Zur Erinnerung an H. Zschokke.“ Aarau 8° – Doch will ich mich noch näher umsehen und, falls ich Etwas finde, es Ihnen melden.

Dagegen glaube ich Ihnen mit aller Bestimmtheit sagen zu können, worauf sich die Worte im Briefe Ihres Herrn Vaters vom 6 Januar 1814 beziehen.

Als unter dem Einrüken der allirten Heere in die Schweiz, zum Durchzuge nach Frankreich, Ende December 1813 eine Parthei der („Unbedingten“) Altgesinnten in Bern, unterstützt von einem Agenten Metternichs, Graf Senft-Pilsach, die damalige bernische Regierung, welche gemäß der kantonalen Verfaßung von 1803 (Mediations-Verfassung) bestand, zur Niederlegung ihrer Gewalt in die Hände des Überrestes des einstigen bernischen Großen Rathes von 1798 des alten „Standes“ Bern nöthigte, erließ diese wiedereingesezte Obrigkeit des „alten“ Bern am 24 December 1813 eine Proclamation, in welcher sie die Wiederherstellung des allein legitimen Zustandes der Dinge, wie er vor 1798 bestanden habe, ankündigte und als Consequenz desselben auch die Wiedervereinigung  der Stadt und des (vormals bernischen) Aargaw mit dem Gebiete der Republik Bern unbedingt versprach, dem übrigens eine zeitgemäße Theilnahme an dem sonst nur der Stadt Bern zustehenden Regimente verheißen wurde.

Diese Proklamation (ihre Urheber selbst nannten sie später (mit vollstem Rechte) „die unglükliche“) warf den Fiduken einer Zwietracht in die Schweiz, welche zwei Jahre lang die leztern in den leidenschaftlichsten Kämpfen hielt und sie verhinderte, diese Kämpfe in sich selbst voll und ohne Dazwischenkunft der Mächte des Wiener-Congresses auszutragen.

Denn der in der Proklamation liegenden Erklärung des (extremen Theils des) bernischen Patriciates, alle Dinge in der Schweiz auf die Zeit vor der Revolution von 1798 zurückzuschreiben, widersezte sich mit Ausnahme der Patricirte von Freiburg und Solothurn und einem Theile der Gebirgskantone, so zu sagen Alles. Insbesondere aber wollten die Kantone Wadt und Aargaw, die seit 1798 von Bern getrennt und seit 1803 in ihrer Selbstständigkeit sehr erstarkt waren, sich ein Aufgeben ihrer Selbstständigkeit und Wiederunterordnung unter das patricische Bern nicht gefallen lassen. Es kam daher zwischen ihnen und dem „restaurirten“ Bern zum allerbittersten Zerwürfniß und bis zu gegenseitiger Bewaffnung.

Nur das Wirken der in Zürich unter Landammann Reinhard zur Schaffung eines neuen Bundes versammelter Kantone (worunter Wadt und Aargaw) (an Stelle der von Bonaparte gegebnen Mediationsverfassung von 1803, welche die Allirten nicht mehr anerkennen wollten), wird die bestimmten Erklärungen der Leztern (d. h. des Kaisers Alexander, dem seine Verbündeten die schweizerischen Angelegenheiten überließen und der weder die Wadt und Aargaw an Bern überlassen wollte), verhinderten förmlichen Krieg zwischen Bern einer- und Aargaw und Wadt anderseits und erhielten schließlich auch den Fortbestand der beyden Kantone Aargaw und Wadt.

Ohne Zweifel bezieht sich Zschokke’s Äußerung, deren Ihr Herr Vater gedenkt, darauf, daß Tschokke dahin gewirkt hatte, daß in Zürich Staatsrath Usteri in seiner Zürcher Zeitung, oder die Zürcher Freitagszeitung, oder vielleicht auch offiziöse Äußerungen der dortigen Staatsmänner in Privatbriefen auf Bern’s Proklamation vom 24 December entschlossen abweisend antworteten. Er kann nur dieß meinen. –

Näheres werden Sie in meinem bald erscheinenden „Mülinen“-Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie finden2, noch viel beßer aber in Muralt’s, Leben des Landammann Reinhard (Zürich 1838)3, in Wurstemberger, „Leben von Mülinen“ (Schweizerische Geschichtsforscher Bd. IX. Bern, Jenni 1837)4 und in dem binnen wenig Wochen erscheinenden zweiten Bande des Werkes meines Bruders Friedrich: Leben der beyden Bürgermeister David v. Wyß, Zürich, Höhe 18855

Zschokke stand stets aufs Lebhafteste für seinen Heimatkanton Aargaw ein und focht gegen Bern (das Bern der Restaurationszeit) in seinem „Schweizer Boten“, seinem Leibblatte. – Es ist mir noch, als hätte ich einmal von specieller Verwendung Zschokke’s bey den zürcherischen Magistraten von 1813 und 1814 für Aargaw gehört; ich erinnere mich aber des Einzelnen im Augenblicke nicht.

Indem ich hoffe, Ihrem Wunsche hiemit in der Hauptsache gedient zu haben, freue ich mich der Gelegenheit, Ihnen den herzlichsten Gruß zu sagen!

Ihr ergebener
Georg von Wyß

P. S. In die Sachlage von 1814 leitet noch der erste Band von Tillier, Geschichte der Schweiz in der Restaurationsepoche (Bern, Zürich 1848)6 fachlich richtig ein. Ebenso: Monnard Histoire de la Confédération Suisse, 5me vol., Paris et Genève 18517.