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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 17. Februar 1886

Lieber Karl!

Wir haben uns gefreut, durch Deinen letzten Brief1 zu erfahren, daß das Lommelsche Haus die schwere Anfechtung durch Diphtheritis mit Gottes Hülfe glücklich überstanden hat. Es ist eine perfide Krankheit unseres Zeitalters, die auch hier viel grassirt hat. Abgesehen von Katarrh, mit dem ich auf lange geplagt war, sind die Meinigen Gott sei Dank! wohl geblieben, und der andauernde Winter wird von meinen älteren Enkeln, Konrad und Annchen, fleißig zum Schlittschuhlaufen benutzt. Die Winterzeit macht auch viele gesellige Ansprüche, denen ich mich aber möglichst zu entziehen suche, da sie mich mehr als gut ist, ermüden und ich meine Zeit und Kräfte zu meinen Arbeiten sehr nöthig brauche. Ich habe auch das Bedürfniß der Ruhe und einer regelmäßigen Lebensweise und bin zufrieden, wenn ich mein Tagewerk ausreichend erfüllen kann, sowohl in meinem Amt als in der mir obliegenden Vereinsthätigkeit.2

Es ist mir von großem Werth und ich bin Dir auch persönlich sehr dankbar, daß Du Dich der Herausgabe der Briefe unseres Vaters unterziehst und nun sehr bald zum Druck fertig stellen wirst. Wenn Du es jetzt nicht unternommen, wer hätte es sonst und zu späterer Zeit gethan! Es wird ein dauerndes biographisches und literarisches Denkmal sein. Die einzelnen Hefte der amerikanischen Zeitschrift über spekulative Philosophie3 von William Harries werden auch mir mit unermüdlicher Korrespondenz portofrei zugesandt; ich lege sie mit stiller Dankbarkeit bei Seite und weiß nichts weiter damit anzufangen.

In der Politik giebt Bismark der Welt reiche Beschäftigung und Parlamente, so wie Publikum können den Stoff, den er ihnen darbietet, schwer bewältigen. Es ist eine gewaltige Thatkraft und steter Gegenstand meiner Bewunderung, wie er in auswärtiger und innerer Politik zu dieser Produktivität in seinem Alter Zeit und Kraft findet. Außer der festen Leitung aller politischen Verhältnisse sind es immer große geniale Gedanken, die er zum Vorwurf giebt, mit denen sich dann die Geister niederer Ordnung abarbeiten mögen. Vorgestern ist nun die Welt durch das neue Kirchengesetz überrascht worden; wir wollen hoffen, daß es dem unglükseligen Kulturkampf ein Ende machen möge. Ich habe die Maigesetze von Anfang an für einen großen Mißgriff gehalten, zu dem sich die Regierung in großer Unkenntniß kirchlicher Verhältnisse, insbesondere der römischen Kirche in Uebermuth hat verleiten lassen. Die politischen Waffen des Staats haben sich ohnmächtig erwiesen und die Macht der katholischen Kirche ist höher gewachsen, als sie je in unseren Landen war; sie weiß auch alle Mittel der persönlichen Freiheit, welche die neuere Staatsverfassung darbietet, zu ihren Zwecken bestens zu benutzen. Bismark scheint nun die Vermittlung im Spanischen Konflikt4 und so weiter mit Geschick zu einem besseren Verständniß mit dem Papst gebraucht und ihn zu wesentlichen Konzessionen bewogen zu haben, wie namentlich in der Besetzung des erzbischöflichen Stuhles durch einen deutschen Geistlichen.5 Ebenso ist es überraschend, daß der Bischof von Fulda sich mit Zustimmung des Papstes zum Mitglied des Herrenhauses hat ernennen lassen. Da das neue Kirchengesetz nun zuerst in das Herrenhaus eingebracht worden ist, darf man hoffen, daß es dort unter Mitwirkung des Bischofs vereinbart werden wird, so daß hernach das Zentrum im Abgeordnetenhaus schwerlich eine gefährliche Opposition dagegen wird unternehmen können. Mein Schwiegersohn Rudel bewegt sich auch in Mitten dieser Kämpfe, da er wieder Mitglied des Abgeordnetenhauses durch Wahl der Waldenburger Kreises geworden ist.

Meine Frau, Kinder und Kindeskinder sind, Gott sei Dank, alle wohl und senden herzliche Grüße. Clara hatte kürzlich Anna Klein, Deine Tochter, zu einem Besuch in Berlin vor ihrem Abzuge von Leipzig eingeladen; sie hat aber leider abgeschrieben, weil sie schon sich in Mitten der Sorgen und Vorbereitungen des Umzugs befindet.6

Dein freundlicher Gruß an Theodor wird bestellt und von ihm mit herzlichem Dank empfangen werden. Sein Zustand ist unverändert; er lebt in seinen Arbeiten und wird dazwischen durch neuralgische Schmerzen gestört, gegen welche er dann Morphium gebrauchen muß. Er wird auch älter und stiller.

Mit herzlichen Wünschen und Grüßen Dein Bruder

Immanuel