Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 5. Juni 1886
Uebermorgen wirst Du wieder Deinen Geburtstag1 feiern, und da wünsche ich zu demselben Dich auch mit meinen herzlichen Glück- und Segenswünschen zu begrüßen. In unserem Alter gewinnt ein solcher Jahresabschnitt einen immer ernsteren Charakter; er erfüllt uns mit innigem Dank, daß Gottes Gnade uns noch eine längere Gnadenfrist vergönnen will, und mahnt uns zugleich um so kräftiger, an das nahende Ende des Lebens zu gedenken, auf welches wir uns abschließend und vorbereitend zu rüsten haben. Du kannst doch im Rükblik recht von Herzen dankbar sein, daß Du in ernster Arbeit mit reicher Befriedigung und erfreulichem Erfolg hast schaffen und wirken können, und auch in Deiner Familie neben schwerer Heimsuchung viel Freude und reichlichen Segen erfahren hast. Du brauchst auch jetzt noch nicht müßig zu sein, sondern darfst noch manches Werk fortsetzen und so Gott will, zur Vollendung führen. Möge Dir dies namentlich in der Herausgabe der Briefe unseres Vaters vergönnt sein. Du wirst an Deinem Freudentag die Trennung von Lommels besonders schmerzlich vermissen, aber hoffentlich auch durch gute Nachrichten von ihnen aus München, so auch von Kleins aus Göttingen erfreut werden.
Da ich Dir erst kürzlich geschrieben habe2, so kann ich Dir aus unserem Leben nicht viel Neues mittheilen. Willy wird nun zum 18 dieses Monats von seiner Beschäftigung im geistlichen Ministerium entbunden werden und dann bald die kommissarische Verwaltung des Landrathsamtes in Burg antreten. Es ist dies auch für unser häusliches Leben eine empfindliche Veränderung, doch merken wir, daß es ihm ganz gut thun wird, aus Berlin heraus zu kommen und zu einer selbstständigen Thätigkeit zu gelangen.
Zu Pfingsten3 werden wir wieder auf freundliche Einladung auf einige Tage zu Knoblauchs nach Pessin gehen und erwarten dann in der folgenden Woche den Besuch meines Schwagers Adalbert aus Breslau mit Frau und Tochter. Die jüngst eröffnete Jubiläums-Ausstellung4 führt viele Gäste nach Berlin; ich habe noch keine Zeit gefunden, sie zu besuchen.
Clara und meine Kinder tragen mir viele herzliche Grüße und Glückwünsche auf.
In herzlicher Liebe
Immanuel