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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Klosters, 11. August 1886

Lieber Karl!

Indem ich annehme, daß Du in Kohlgrub verweilen wirst, sende ich Dir dorthin unsere Grüße aus der schönen Schweiz und kann Dir von unserem Ergehen gute Nachricht geben. In unserem Kurhaus sind wir recht gut versorgt; freundliches Zimmer mit Aussicht auf die Silvretta mit breiten hellglänzenden Schneefeldern und Gletschern; recht gute reichliche und gesunde Verpflegung; angenehme Bedienung mit erwünschter Ordnung und Reinlichkeit. Der Gasthof ist voll Menschen, meistens Stuttgarter und Schweizer, auch einige Bremer und wenige Berliner; freundliche ungenirte Begegnung mit manchen Berührungspunkten. Als befreundet fanden wir hier Fräulein Sophie von Bodelschwingh, eine Tochter des verstorbenen Finanzministers, mit der wir gern und am meisten verkehrten; sie erwartet hier heute ihre ältere Schwester die verwitwete Präsidenten von Quadt aus Gütersloh in Westfalen.

Klosters liegt in weiter Ausdehnung zerstreut im oberen Thal des Prätigau, welches von dem Silvretta-Gebirge abgeschlossen wird, von hohen Bergen umgeben, aber freundlich und von der brausenden Lanquart belebt. Eine große Annehmlichkeit ist ein nahe gelegener Wald mit herrlichen Buchen und Tannen, mit zahlreichen Sitzbänken ausgestattet, wo wir gewöhnlich die Vormittagsstunden, ich mit Lektüre und Clara mit landschaftlichem Zeichnen beschäftigt zubringen. Wir haben eine übermäßig große Litteratur zur Auswahl mitgenommen; zunächst lese ich vornehmlich den speziellen Theil von Martensen christlicher Ethik1, welchen ich mit höchstem Interesse zur Belehrung und Erbauung studire.

In der ersten Woche hier hatten wir kaltes regnerisches Wetter; seit mehreren Tagen ist es aber schön, sogar zuweilen frisch. Wir sind daher in den größeren Wanderungen zurükhaltend; doch bin ich erfreut, daß ich dabei meinen alten Beinen mehr bieten kann, als ich erwartete, wenn wir auch anstrengende Bergtouren uns nicht zumuthen. Am vergangenen Sonnabend2 gingen wir Nachmittags nach Laret auf dem Wege nach Davos; der Weg führte über den Berg durch schönen Wald in ein freundliches höher gelegenes Gebirgsthal; wir brauchten doch dazu 1 ¾ Stunden hin und 1 Stunde zurük. Später werden wir eine Tagesparthie nach Davos zu wagen unternehmen; diesem auch schön gelegenen wenn auch durch seine kranken Gäste bekannten Ort3 mit seinen großartigen komfortablen Einrichtungen für alle Bequemlichkeiten und Genüsse des Lebens zu sehen, wird immer von Interesse sein.

Unsere Reise von Erlangen bis hierher haben wir bei schönem Wetter zurükgelegt.4 In München haben wir leider Lommel verfehlt sowohl in seiner Wohnung, wo wir nur Gottlieb und Felix antrafen, als in unserem Gasthof, dem deutschen Kaiser5, wo er uns Abends aufsuchte. Wir bitten ihn uns seine Frau Luise herzlich zu grüßen. Von München fuhren wir über Lindau, den Bodensee, Rorschach bis Lanquart, eine Bahnstation vor Chur, wo wir im Davoser Hof6 gut übernachteten.

Von Klärchen haben wir gute Nachrichten empfangen; sie erfreut sich in dem behaglichen Leben mit Deiner Sophie, welche sich ihrer gütig und liebevoll annimmt.

Unsere Marie wird von Heringsdorf wieder mit ihren Kindern nach Berlin zurükgekehrt sein; Rudel will später mit ihr noch eine Reise in die Schweiz unternehmen und es ist wohl möglich, daß sie uns dann auch hier aufsuchen.

Clara trägt mir herzliche Grüße an Dich, Deine liebe Marie und Lommels auf.

Mit herzlichen Wünschen
Dein Bruder Immanuel