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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Schreiberhau, 28. Juli 1887

Lieber Karl!

Zu Deinem Jubelfest1 habe ich schon vor unserer Abreise von Berlin Dich in Begleitung einer festlichen Gabe2 vorläufig begrüßet; ich thue dies jetzt im Angesicht des festlichen Tages, den wir im Geist mit Dir vereinigt mit Deinen Kindern, Enkeln und Freunden feiern werden. Es ist doch eine schöne Feier, die wir uns im Alter wohl gönnen dürfen, und ich habe sie auch bei meinem Jubiläum3 nicht verschmäht. Wenn auch die wehmüthige Erinnerung an schwere schmerzliche Tage Dich damit verbindet, so sind wir doch von herzlichem Dank bewegt für den Reichthum der Gnade und Bewahrung die uns der Herr in Seiner Erbarmung erwiesen hat, und gedenken mit Befriedigung der Früchte ernster Arbeit in einem langen Berufsleben. Du bist mir von Kindheit und früher Jugend an ein Vorbild des Fleißes und treuen gewissenhaften Strebens gewesen, das mich immer in einem mehr zerstreuten und unruhigen Wesen gebunden und angespornt hat, und ich gedenke mit innigem Dank der brüderlichen Liebe, mit der Du mich und mein Haus stets begleitet hast. Du wirst nun heute auch die Bezeugung wohlverdienter Anerkennung von Deinen Kollegen und weiteren Kreißen empfangen, und sie werden es aussprechen, wie Du auch in deutscher Wissenschaft eine ehrenvolle Stellung gewonnen hast. Es wird in diesen Tagen Dich gewiß auch, so wie mich eine Erinnerung tief bewegen, es ist die an unseren Vater und an unsere Mutter; wir fühlen was wir ihnen Beiden verdanken und daß sie unsere Arbeit und unser Haus gesegnet haben.

Meine Kinder, mit denen wir hier vereinigt sind, senden auch Dir herzliche Grüße und Glückwünsche. Es ist eine recht gemüthliche Gemeinschaft, in der wir eine behagliche Muße genießen und sind dabei vom schönsten Wetter begünstigt. Wir haben eine freundliche geraeumige Wohnung, in der wir von der Höhe das vorliegende grüne Hochthal überschauen, das mit reichen Villen und Häußern zwischen Wald und Wiesen gelegen ist und im Norden von dem Isergebirge mit dem Hochstein und im Süden von dem Riesengebirge mit seinem langgestreckten hohen Kamm eingeschlossen ist. Marie befindet sich hier schon seit Anfang des Monats mit den zwei kleinen Kindern. Rudolf ist später mit seinem Gymnasiasten Conrad nachgefolgt und wir sind am Montag Abend den 18ten dieses Monats ihnen nachgereist. Es sind zwar hier keine Schweizer Alpen, aber doch eine sehr freundliche abwechselnde und auch kräftige Natur, und gewährt eine frische Luft, in der auch die Sommerhitze gemildert ist.

Nun mögest Du Deine Jubelfeier mit Dank und Freuden genießen. Der Herr segne und bewahre auch Deine kommenden Lebensjahre!

In herzlicher Liebe  
Dein Bruder
Immanuel