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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 6. Dezember 1887

Lieber Karl!

Das wichtigste Ereigniß in unserem Leben, welches ich Dir auf Deinen lieben Brief vom 6ten vorigen Monats1 mittheilen könnte, ist die glückliche Geburt eines Enkels in Burg. Willy hat Dir dies aber in seiner Freude schon alsbald angezeigt und ich kann Dir am Schlusse der ersten Woche dieses jungen Lebens melden, daß Mutter und Kind auch nach den neuesten Nachrichten sich recht wohl befinden. Wir erwarten, daß Willy morgen wieder zum Reichstag herüberkommen wird2; seine Besuche sind bei seinen Ehehaften immer nur sehr flüchtig; doch wird er bei den bevorstehenden Kämpfen wegen Kornzölle etc. und da er zwei Kommissionen als Mitglied angehört, seinen parlamentarischen Pflichten mehr Zeit widmen müssen. Im Uebrigen sieht es jetzt in der Welt wieder friedlicher aus, nachdem in Frankreich die Präsidentenwahl glüklich überwunden ist3; doch hören deshalb die kriegerischen Rüstungen nicht auf, namentlich erscheinen sie in Rußland sehr befremdlich und lassen einen gewaltsamen Ausbruch in Bulgarien und einen Kampf zwischen Rußland und Oesterreich befürchten, der auch Deutschland zur Theilnahme nöthigen würde. Der Besuch des Kaisers von Rußland war ein interessantes Intermezzo; er wurde von Soldaten und Polizei gegen Attentate sorgfältig geschützt, und das Publikum verhielt sich in anständiger Ruhe, während es unseren alten Kaiser, wo er sich sehen ließ, mit Enthusiasmus begrüßte.4 Für den Letzteren war der Besuch in diesen Tagen, welche gerade die schmerzlichen Nachrichten vom Kronprinzen aus San Remo brachten5, eine glükliche Ableitung der Stimmung. Er erfüllte gewissenhaft gegen seinen Gast die Pflichten der Höflichkeit und Politik und befindet sich überhaupt wieder nach überstandener Krankheit recht wohl und frisch. Ob die Unterredungen des Reichskanzlers mit dem russischen Kaiser einen nachhaltigen Eindruck gemacht haben, erscheint wohl sehr zweifelhaft. Der General von Winterfeld, der mich in diesen Tagen besuchte und sich den letzten Winter in Rom aufgehalten hat, erzählte interessant von seinen Gesprächen mit Papst Leo; er hatte keinen politischen Auftrag, sondern unser Botschafter von Schlözer stellte ihn als höheren preußischen Offizier dem Papst vor; er ist ein kluger und gewandter Mann, der nach seiner Gewohnheit schlank weg von der Leber weg zum Papst geredet hat, dem diese unbefangene Aussprache, auch über Kultur- kampf u. s. w. und unsere politischen Männer, Kaiser, Bismarck etc. sehr wohl gefiel. Unter Anderem erzählte er dem Papst von dem wahren Miracle, welchem unser Kaiser sein hohes Alter und seine Lebensfrische zu verdanken habe: beim letzten Attentat von Nobiling6 habe der Kaiser einen sehr starken Blutverlust gehabt, so daß sein Mantel von Blut getränkt – wie er, Winterfeld selbst gesehen – wie ein dicker Panzer fest gestanden habe; während bei alten Leuten erfahrungsmäßig ein starker Blutverlust sonst ein baldiges Ende oder Gehirnerweichung zur Folge hat, wäre beim Kaiser das Miracle eingetreten, daß er im Stande gewesen, das verlorene alte Blut, mit dem er auch sonst nicht mehr so lange habe leben können, durch neues frisches Blut zu ersetzen, und mit diesem frischen Blut setze er sein Leben fort. Diese Wahrnehmung und Ueberzeugung habe ihm – Winterfeld – der Leibarzt Lauer ausgesprochen und auch dem Papst sei sie vom höchsten Interesse gewesen. Die Nachrichten vom Kronprinzen lauten jetzt beruhigender; er soll jetzt Homöopathie gebrauchen; doch hat man kein Vertrauen zu seiner Genesung.

In den letzten Tagen machte eine Versammlung beim General-Quartiermeister Grafen Waldersee, welcher auch Prinz Wilhelm und Gemahlin beiwohnten, in den Zeitungen viel Gerede, das nun aber wohl bald wieder verstummen wird.

Die Versammlung fand auf Anregung von Stoecker im Interesse der Berliner Stadtmission statt, um ihr zur Erhaltung und Erweiterung größere Mittel zuzuführen, und die prinzlichen Herrschaften, welche dieser Sache und auch Stoecker sehr zugethan sind, waren bereit, ihre Theilnahme durch persönliche Anwesenheit zu bezeugen. Neben vielen Anderen war ich auch eingeladen und man wird versuchen, die Mittel durch vermehrte Kollekten zu beschaffen.

Aus dem Hause kann ich, Gott sei Dank, berichten, daß wir im Ganzen uns wohl befinden. Rudel muß sich sehr mit Ohrensausen quälen und versucht dagegen, bis jetzt ohne Erfolg, die verschiedensten Kuren der inneren und äußeren Anwendung. In diesen Tagen befindet er sich auf einer Dienstreise in Posen, und wir wünschen herzlich, daß er ohne Verschlimmerung zurükkehrt. Unsere Nichte Gretha, Frau Landräthin von Löbell aus Neuhaus war in letzter Woche unser Gast, mit welcher Clara an verschiedenen Unterhaltungen Theil genommen hat.

Deinem Siegmund wünschen wir von Herzen Glück zu seinem Engagement in Ludwigshafen; es wird ihm auch gut thun, sich in der Welt weiter umzusehen.7 Für Dein häusliches Leben ist es erfreulich, daß Georg nun in Dein Haus zieht; er bringt doch überall Leben mit sich. Den 20sten Band der Städtechroniken8 habe ich von der Buchhandlung empfangen; mich aber noch nicht darin vertieft. Interessanter war uns Deine Photographie9, die allseitigen Beifall als wohl gelungen gefunden hat.

Von Clara und Klärchen viele herzliche Grüße für Dich und Deine Kinder, denen auch meine besten Wünsche sich anschließen. Dein Bruder

Immanuel