Berlin den 6ten Januar 1888
Lieber Karl!
Wenn wir uns auch schon voll im Zuge des neuen Jahres befinden, so bringe ich Dir doch noch meine herzlichen Glückwünsche zu demselben. Möge der Herr in erwünschter Gesundheit die rüstige Kraft Dir zu fortgesetzter befriedigender Arbeit und Freuden und Wohlbefinden in Deinem Hause gewähren. Ich bin erstaunt, daß Du Dich in ein neues Gebiet nordischer Wissenschaft mit großer Anstrengung vertiefst; mir würde dazu völlig die Neigung fehlen, da es mir ein nothwendiges Bedürfniß ist, mich auf das Feld der Thätigkeit zu beschränken, auf welchem ich mich nach langjähriger vertrauter Uebung leidlich bewegen kann. Doch beschleicht mich dabei die Besorgniß, daß meine Kräfte auch dazu nicht ausreichen dürften, während die Verantwortlichkeit meines Amts es nicht gestattet, darin eine Schwäche wahrnehmen zu lassen. Man muß in den Verhältnissen, in denen ich stehe, die Ueberzeugung haben, daß nicht bloß die Gesinnung, sondern auch die Kraft zur That feststeht, und ich darf auf Nachsicht und Geduld Anderer nicht rechnen. Wenn ich mich auch unablässig nach Ruhestand sehne, und ernstlich daran denke, so spreche ich doch | davon kein Wort, so daß die Leute annehmen, daß es so ewig nach dem Vorbild des alten Kaisers fortgehen werde; wenn es aber einmal gesagt wird, so muß es auch ohne Verzug geschehn. In das neue Jahr bin ich überhaupt mit Bangigkeit eingetreten, daß die gewitterschwere Ruhe plötzlich ganz unerwartet unterbrochen werden könne, und es werden dann die zur Zeit gebundenen dämonischen Mächte schrecklich losbrechen. Solange der alte Kaiser in Geistesklarheit lebt und Bismark – auch kein junger Mann mehr – am Ruder steht, dürfen wir uns der Ruhe und des Friedens noch erfreuen; diese Beiden geben uns das wundervolle Gefühl und Bewußtsein der Sicherheit; sobald sie einst fehlen werden, müssen Preußen und Deutschland die Probe im Kampf für alle ihre Errungenschaften bestehen. In vierzehn Tagen wird wieder das jährliche Krönungs- und Ordensfest gefeiert; vermuthlich werde ich auch Gelegenheit haben, hierbei den alten Kaiser zu sehen. Die Nachrichten vom Kronprinzen lauten jetzt wieder ziemlich hoffnungsreich; Clara hatte vor wenigen Tagen zu ihrem Geburtstag auch Briefe aus San Remo von Frau von Heinz und ihrer Schwester Adelheid von Bülow, die sich dort zu ihrer Erholung auf- | halten; sie stehen von älterer Zeit her in näherem Verhältniß zum Kronprinzen und brachten auch den Sylvester-Abend bei ihm zu in gemüthlicher Geselligkeit; der Kronprinz immer freundlich und liebenswürdig, und in ungebrochener männlicher Kraft und Schönheit. Doch ist trotz aller ärztlicher Kunst an eine Ueberwindung des krebsartigen Uebels schwer zu glauben; man muß aber in dieser schweren Heimsuchung seine Fassung und Haltung bewundern und ehren.
Die Versammlung beim Grafen Waldersee unter Theilnahme des Prinzen Wilhelm und seiner Gemahlin hat in der Presse einen großen Aufruhr erregt. Es ist immerhin ein denkwürdiges Zeichen der Zeit; der Liberalismus bäumt sich dagegen, daß der Prinz – der künftige Kaiser – in das Fahrwasser von Stöcker hineingezogen werden könne. Ich habe auf Einladung des Kammerherrn der Prinzessin auch an der Versammlung Theil genommen und mich still dabei verhalten; sie war ungeschickt zusammengesetzt und ich habe es auch unpassend gefunden, daß der Prinz zu dieser persönlichen Verbindung bewogen worden ist. Stöcker braucht Geld zur Stadtmission und diese Versammlung sollte ihm mit Benutzung des treibenden Einflusses des Prinzen dazu verhelfen. Die Stadtmission ist an sich nicht Gegenstand des Streits; soll sie aber gedeihen, so muß sie ohne Nebenzweck als eine rein | religiöse und sittliche in Frieden betrieben werden. Dazu ist aber Stöcker als ein höchst begabter tapferer Kämpfer nicht geeignet; seine Stärke, Kraft und eigenstes Bedürfniß besteht im Kampf mit dem Liberalismus und Judenthum, und man glaubt ihm nicht, wenn er stets versichert, daß die Stadtmission in ihrem Wirken von allen diesen Kämpfen nicht berührt und dabei nicht betheiligt werde. Am besten wird es sein, wenn er die Leitung der Stadtmission aufgiebt und sich auf seine Kämpfe nach anderen Seiten hier zurükzieht. Freilich ist die Beschaffung der beträchtlichen Mittel für die Berliner Stadtmission vornehmlich seiner Thätigkeit, seinen Reden und seinem Ansehen zu verdanken.
Wir haben jetzt vollen Winter mit Schnee und Eis; hoffentlich wird uns dies nicht hindern, am nächsten Mittwoch, den 11ten dieses Monats nach Burg zur Taufe meines Enkels daselbst zu fahren; ich bin auch als Pathe eingeladen, ebenso Rudolf Bitter. Clara wird von dort noch einen Besuch bei Maria Trinkler in Magdeburg unternehmen. Auch Clärchen soll dabei Pathe stehen. In der nächsten Woche erwarten wir auch einen Besuch meiner Nichte Grethe, die sich zu Brandenburg bei ihren Schwiegereltern aufgehalten hat. Abgesehen von üblichen Erkältungen und Katarrhen befinden wir uns, Gott sei Dank, alle wohl.
Herzliche Grüße an Deine Kinder von mir und den Meinigen. Mit herzlichen Wünschen
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Privatbesitz
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Privatbesitz
1000
Wilhelm I., König von Preußen, Deutscher KaiserWilhelm I., König von Preußen, Deutscher Kaiser11863288417971888Wilhelm I. (1797–1888), Prinz von Preußen, König von Preußen von 1861 bis 1888, ab 1871 auch Deutscher Kaiser.
Bismarck, Otto11851136X18151898Bismarck, Otto (1815–1898), in Schönhausen an der Elbe geborener preußischer und deutscher Politiker, der 1850 Mitglied des Erfurter Unionsparlaments war, von 1862 bis 1890 preußischer Ministerpräsident, zugleich von 1867 bis 1871 einziger Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes und von 1871 bis 1890 erster Reichskanzler des Deutschen Reiches.
Friedrich Wilhelm von Preußen11853566818311888Friedrich Wilhelm von Preußen (1831–1888), Kronprinz, siehe auch: Friedrich III.
Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell
Clara Hegel, geb. Flottwell116570776?18251912Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell (1825–1912), Tochter Eduard Heinrich Flottwells (1786–1865) und Auguste Flottwells, geb. Lüdecke (1794–1862), jüngere Schwester Friederike Hegels, geb. Flottwell (1822–1861), der ersten Ehefrau Immanuel Hegels (1814–1891) und dessen zweite Ehefrau ab 8. September 1865.
Waldersee, Alfred Heinrich Karl Ludwig11862865818321904Waldersee, Alfred Heinrich Karl Ludwig (1832–1904), in Potsdam geborener preußischer Generalfeldmarschall, der nach einer glänzenden militärischen Karriere von 1888 bis 1891 Chef des Großen Generalstabs war und dann von Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) entlassen wurde.
Auguste Viktoria11865112918581921Auguste Viktoria (1858–1921), Prinzessin aus dem Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg und ab 1881 Ehefrau Prinz Wilhelms von Preußen (1859–1941), des späteren Königs von Preußen und dritten Deutschen Kaisers.
Stoecker, Adolf11861839318351909Stoecker, Adolf (1835–1909), in Halberstadt geborener evangelischer Theologe und Politiker, der nach seinem Studium an den Universitäten Halle und Berlin zunächst als Hauslehrer und Gemeindepfarrer tätig war. Nach seiner Zeit als Militärpfarrer in Metz wurde der kaisertreue und nationalistische Geistliche 1874 vierter – und 1883 zweiter – Hof- und Domprediger am Berliner Dom. Gleichzeitig wurde er Mitglied des Vorstandes der altpreußischen Generalsynode und Leiter der Berliner Stadtmission. Von 1878 bis zu seinem Tode war er Vorsitzender der von ihm gegründeten konservativen und antisemitischen Christlich-sozialen Partei.
Bitter, Rudolf11619799418461914Bitter, Rudolf, der Jüngere (1846–1914), in Merseburg geborener preußischer Verwaltungsjurist und Politiker, Sohn (Hans) Rudolf Bitters, des Älteren (1811–1880), und Anna Bitters, geb. Nauen, 1819–1885) sowie Ehemann Marie Bitters, geb. Hegel (1848–1925). Nach seinem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Berlin, Bonn und Lausanne ging er im Jahre 1873 in den preußischen Verwaltungsdienst in Posen, wurde 1875 Landrat im schlesischen Kreis Waldenburg, wechselte von 1882 bis 1888 und in den Jahren 1898/99 (als Ministerialdirektor) ins preußische Innenministerium, wurde 1888 Regierungspräsident in Oppeln, 1899 Oberpräsident der Provinz Posen. Von 1879 bis 1888 war er als Mitglied der Freikonservativen Fraktion Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.
Preußen, Prusse Königreich Preußen (französisch: Prusse), auch Ostpreußen als östlichste Provinz des Königreichs.
DeutschlandKulturgeschichtlich ist damit der Raum deutscher Nation und Sprache gemeint, wo „Teutschland“ im Laufe der Frühen Neuzeit eine Kurzbezeichnung für das „Heilige Römische Reich teutscher Nation“ wurde. Im 19. Jahrhundert wurde „Deutschland“ immer mehr zur inoffiziellen Bezeichnung für die deutschsprachigen Gebiete Mitteleuropas, zunächst das Gebiet des 1815 gegründeten Deutschen Bundes, dann des 1871 gegründeten Deutschen Reiches.
San Remo43.8198253,7.7748827Etwa 280 Kilometer südwestlich von Mailand an der Küste des Ligurischen Meeres des Mittelmeers nahe der Grenze zu Frankreich gelegener Kur- und Ferienort.
Burg52.2705632,11.8588198Etwa 25 Kilometer nordöstlich von Magdeburg und etwa 120 Kilometer südwestlich von Berlin gelegene Kreisstadt.
Magdeburg52.1315889,11.6399609Hauptstadt der preußischen Provinz Sachsen an der Elbe und Sitz des Regierungspräsidiums Magdeburg, etwa 150 Kilometer westlich von Berlin gelegen.
Brandenburg52.4108261,12.5497933Etwa 70 Kilometer westlich von Berlin an der Havel gelegene Stadt, in deren Dom im Herbst 1848 für etwa einen Monat die vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) aus Berlin vertriebene Preußische Nationalversammlung tagte.
LiberalismusNeben dem Sozialismus und dem Konservativismus die dritte große politische Ideologie im 19. Jahrhundert, deren vielfältige Programme und Erscheinungsformen keine eindeutige Definition zulassen.
Berliner StadtmissionSoziale Institution, die 1877 vom Hof- und Domprediger Adolf Stoecker (1835-1909) gegründet wurde, befördert vom Berliner Generalsuperintendenten und Vizepräsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats der altpreußischen Kirchen Bruno Brückner (1824-1905).