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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 5. Juni 1888

Lieber Karl!

Also wieder ein Jahr Deines Lebens vorüber1 und wir kommen immer näher dem Ende. Aber Gott sei Dank, der uns dahin so gnädig geführt hat, und Er möge Dich auch im neuen Lebensjahr in Barmherzigkeit und Geduld bewahren, vor allen Uebeln und Beschwerden beschützen und Dich die Ruhe des Alters in Zufriedenheit genießen lassen. Alle diese Wünsche und Betrachtungen beziehen sich in gleichem Maaße auf mich selbst und haben daher ihren vollen Ernst; denn das Alter bleibt das unvermeidliche schlimmste Uebel im Menschenleben. Und es thut sehr noth, daß wir uns innerlich dagegen in Gesinnung und ung2 rüsten und befestigen, um es in Geduld und Demuth zu ertragen und dem Heimgang in Frieden getrost entgegen zu gehen. Ich werde auch in meiner Gesundheit und Lebenskraft sehr wackelig; abgesehen vom Katarrh habe ich keine besonderen Leiden nachzuweisen, als die zunehmende Abnahme der leiblichen und geistigen Kräfte. Es wäre daher sehr angemessen, daß ich in Ruhestand trete; so sehr das auch mein eigenes Bedürfniß, kann ich es doch im gegenwärtigen Augenblik nicht laut werden lassen. So lange der alte Kaiser lebte, war ich auf seinen Befehl und Wunsch3 ihm schuldig, möglichst auszuharren. Beim jetzigen Kaiser kann ich die Frage der Wiederbesetzung meines Amts nicht dem Streit der Partheien aussetzen. Die Zustände auf dem Thron sind zur Zeit interessanter und bringen die größten Gefahren für das Land. Der Kaiser ist nicht regierungsfähig und kann seinen Willen nicht durch Laut der Stimme, sondern nur schriftlich auf kleinen Zetteln mit Bleistift kund geben. Sein Denken und Wollen ist überhaupt durch die tödliche Krankheit geschwächt und gebrochen; er kann sich nur mit nebensächlichen Dingen beschäftigen. Seine geistige Kraft war von jeher beschränkt und er ist ganz dem Einfluß und dem Willen der Kaißerin unterworfen; sie ist das Produkt der liberalen Weisheit ihres Vaters und durch und durch Engländerin geblieben; politisch freisinnig und religiös Atheistin. Beide wollen nur noch die lange ersehnte Ehre und den Glanz der kaiserlichen Würde und Hoheit genießen; halten die Lebenshoffnung mit Hülfe des Dr. Makenzie fest, und erfreuen sich der Kundgebungen der Popularität, die sie bei ihren äußeren liebenswürdigen Gaben mit Recht genießen. Sie denken deshalb auch nicht daran, die Regierung des Landes dem Kronprinzen als Regenten zu überlassen. Gegenwärtig sind wir wieder in eine Ministerkrißis gerathen. Man kann nur ein baldiges Ende dieser Zustände wünschen.

Doch will ich Dir noch von unseren häuslichen Erlebnissen einiges berichten. In Pfingsten4 waren wir nach Herkommen zu den Feiertagen in Pessin im freundlichen grünen Havelland bei Knoblauchs, wo wir im liebenswürdigen Familienkreise, ebenso wie bei Bredows in dem nahe benachbarten Sentzke freundliche Aufnahme fanden. Giebt es auch hier wie überall manche Sorgen, so wird doch ein behagliches Dasein gepflegt. Nach meiner Rükkehr folgte in der Trinitatis Woche  die Berliner Pastoral-Konferenz mit ihren festlichen Verßammlungen und Gottesdiensten. Vorher fand auch die große Versammlung des Hülfsvereins zur Bekämpfung der Nothstände in den großen Städten statt; er betrifft unter kronprinzlicher Protektion vornehmlich die Unterstützung der Stadtmissionen, besonders in Berlin unter der vielfach angefeindeten Leitung von Stoecker. Dazwischen hatten wir den Besuch unserer Nichte Ellis aus Breslau; sie hat sich im Winter und einem Bade erkältet und nachdem von den besorgten Eltern alle Kuren der Breslauer Aerzte mit wenigem Erfolg gebraucht wurden, sollte nun der große Dr. Schweninger hier konsultirt werden. Clara führte sie zu ihm; ob seine Mittel fruchten werden, ist noch abzuwarten. Ellis ist ein ungewöhnlich schönes Mädchen, die aber durch ihren Eigen- und Starrsinn mit schonungsloser Rüksichtslosigkeit ihren Eltern, die sie von Kindheit an sehr verzogen haben, die ärgste Noth und Plage bereitet. Der gemüthvolle, erregbare Adalbert leidet schwer durch ihr unkindliches Betragen.

Marie und Rudel haben noch immer viel Sorge wegen ihres ältesten Sohnes Conrad. Derselbe hatte die Diphtheritis gehabt; und wie häufig bei dieser verderblichen Krankheit war zuerst eine Lähmung der Sprechorgane zurükgeblieben, und nachdem diese überwunden, stellte sich eine Lähmung der Arme und Beine ein, so daß er nicht schreiben und nicht gehen kann. Er wird nun elektrisirt; aber die Wirkung zur Besserung fängt erst sehr allmählich an. Marie wird wahrscheinlich mit ihm bald nach Nauheim zur weiteren Kur gehen.

Unser Klärchen war 14 Tage bei Willy in Burg und Pietzpuhl zum Besuch, und ist davon wohl und sehr befriedigt zurükgekehrt. In einigen Tagen will uns jetzt Armgard mit dem kleinen Wolfgang besuchen, in der Absicht nach kurzem Aufenthalt bei uns zu ihrer Schwester Frau von Bredow auf Ihlo in der Nähe von Reichenberg zu längerem Besuch zu gehen.

Wegen der Gräber unserer Eltern hat der Kirchenvorstand weiter mit mir verhandelt. Wir waren auf dem Kirchhof und suchten die Stelle, wohin ihre, so wie die Fichteschen nebeneinander übersetzt werden sollen. Die Kirche trägt alle Kosten der 5 und der Wiederherstellung der Gräber. Die Veränderung läßt sich nicht mehr verhindern, um so weniger als wir hier keine Erbbegräbnisse, sondern nur Grabstellen für die Dauer der Verwesungsfrist besitzen.

Herzliche Grüße von Clara und Clärchen und Glückwünsche zu Deinem Geburtsfest. Mit gleichen Wünschen Dein Bruder

Immanuel

P. S. Clara hat einige Zeit wegen heftigen Katarrhs das Zimmer hüten müssen; es geht aber auch wieder besser. Wir wünschen, daß Du von Deinen entfernten Kindern gute Nachrichten erhältst.