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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 5. Juni 1889

Lieber Karl!

Die Feier Deines Geburtstags1 ist nun wieder im Laufe der Zeit herangekommen, und wir begrüßen ihn in brüderlicher Liebe mit herzlichen Wünschen für Dein Wohlergehen in friedlicher Gemeinschaft mit Deinen Kindern. Wir loben und preisen die Gnade Gottes, der unser langes Leben auch in manchem Wechsel nicht ohne Heimsuchung durch Trübsal und Anfechtungen wunderbar geführt und uns nun noch eine Frist gestattet, uns auf die Heimfahrt in Demuth mit allem Ernst vorzubereiten. Die Welt, die uns umgiebt, sieht anders als vor 50 bis 60 Jahren aus, und welchen Wandel im Großen und Kleine haben wir erlebt. Ich bin froh und von Herzen dankbar, daß es mir nicht beschieden sein wird, auch noch an den Aufgaben und Erfahrungen der nach menschlichem Ermessen uns bevorstehenden schweren Zukunft Theil nehmen zu sollen. Dazu werden andere jüngere Kräfte gehören; mögen sie die rechte Ritterschaft in der Treue vor Gott, dem Herrn, erweisen.

Wir hatten in den letzten Wochen manche interessante Vorgänge, an denen wir persönlich nur wenig Theil nehmen konnten. Zum Einzug des Königs Umberto hatte die Stadt sich glänzend geschmückt.2 Wir sahen ihm in der Wohnung von Kleist-Retzow, Königgrätzerstraße am Potsdamer Thor zu; es war beim herrlichen Sonnenschein ein glänzender Zug und würdiger Empfang und die Massen der Menschen bewahrten eine durchaus anständige Haltung. Zum Schlusse des Reichstags, der das große Werk des Invaliditätsgesetzes3 in täglichen Sitzungen vollenden mußte, hatte Willy seine Frau Armgard und sein Kind zu uns gebracht, und es war für uns eine große Freude, sie über acht Tage in unserem Hause zu haben. Der kleine Wolfgang hat sich körperlich und geistig lieblich, frisch und lebendig entwikelt. Du hast vielleicht auch davon gehört, daß Willy zum Präsidenten des Konsistoriums in Stettin für die Provinz Pommern in Vorschlag gekommen war; Präsident Hermes hatte ihm die Stelle in persönlicher Unterredung angeboten, und sowohl der Evangelische Ober-Kirchenrath als Minister von Goßler hatten seine Berufung beschlossen. Hernach entstanden aber im Staats-Ministerium mit Rüksicht auf seine Jugend und anderweitige Vorschläge Schwierigkeiten, durch welche seine Wahl vereitelt wurde. Er selbst hatte sich darum nicht beworben und nicht darnach getrachtet; er ist auch gern in Burg Landrath geblieben und ich bin allen diesen Verhandlungen absolut fern gestanden. Es war mir ein Uebelstand, daß die Nachricht von seiner Ernennung zu früh in die Zeitungen kam und dadurch ein Gerede entstand. Für Willy war es immerhin eine Ehre, zu dem Amt ernstlich vorgeschlagen zur werden; im Uebrigen wurde die Sache bald überwunden.

Am letzten Sonntag4 und Montag machte ich einen Besuch in Baruth, wo vom General-Superintendent Doktor Koegel die Schlußkonferenz der in dortiger Diözese gehaltenen General-Kirchen-Visitation statt fand. Der Fürst Friedrich zu Solms-Baruth, Patron fast aller Kirchen und Gemeinden der Diözese, war auch Mitglied der Visitations-Kommission und hat auch fast alle Kosten der Visitation getragen. Er nahm gastfreundlich mich und die meisten Mitglieder in sein Haus auf, welches in einem weiten schönen Park gelegen, in dem die Nachtigallen uns in den Schlaf einwiegten. Er ist ein hochbetagter, aber noch sehr rüstiger Herr, ein liebreicher mildthätiger Patron aller seiner Pastoren und Lehrer, ein Mann von lauterer Frömmigkeit, und von einer Bescheidenheit und anspruchslosen Demuth, die, da sie durchaus aufrichtig und wahr ist, als ein beschämendes Vorbild erscheint. Es war daher ein schöner unvergeßlicher Aufenthalt in seinem Hause, und ebenso ergreifend die ganze Feier des Abschlußes der Visitation.

Zum nächsten Pfingstfest5 werden wir, nemlich ich mit Clara, wieder der freundlichen Einladung der Familie Knoblauch in Pessin folgen; Klärchen wird dagegen die Geschwister in Burg besuchen. Hoffentlich wird bis dahin sich die merkwürdig anhaltende drükende Hitze mildern, bei der Menschen, Vieh und Pflanzen gemeinsam leiden. Dies belebt auch keineswegs die Neigung zum Reisen und wir haben darin noch keine Beschlüsse gefaßt. Nach Ems oder sonst zu einem Badorth ist kein Bedürfniß; erwünscht und empfohlen wird nur ein nervenstärkender Aufenthalt in den Alpen; es ist bis dahin immer aber eine anstrengende Fahrt und bei solcher Hitze! Da bleibt man lieber zu Hause. Von den Kindern in Oppeln haben wir gute Nachrichten; die Bewegungen der Streike der Bergarbeiter schien rasch bewältigt zu sein.6 Rudel will wieder nach St. Moritz im Engadin und soll Marie ihm später in die Schweiz nachfolgen. Die Kinder werden mit Gouvernante – die Französin ist inzwischen schon wieder fort – vermuthlich in Oppeln bleiben; sie haben einen schönen Garten, in dem sie sich vergnügen können.

Adalbert hat mit Ella eine Reise nach Florenz unternommen, war in St. Remo, Genua, vereinigte sich mit der schönen, aber trotzigen Tochter Ellis, und ist auf der Rükreise über Venedig. Von Konstanz erhielten wir die letzte Nachricht, wie die übrigen sehr entzükt von den empfangenen schönen Eindrüken.

Herzliche Grüße und Glükwünsche von Clara und Clärchen; auch für Deine Kinder insbesondere die liebe Sophie, die sich nun wieder in das stillere Leben zurechtfinden wird.

In treuer Liebe Dein Bruder Immanuel